Foto: Ensemble des Schauspiels Köln in "Phaedra" © Birgit Hupfeld
Text:Hans-Christoph Zimmermann, am 26. November 2022
Für kalorienreiche Verpflegung ist gesorgt, das zeigen schon die Pizzakartons. Für den Kick ebenfalls: Alkohol gibt es reichlich und auf jedem Karton wartet eine Line für die Nase. Phaedra (Benny Claessens) und Oenone beziehungsweise Peggy (Lola Klamroth) hocken mit ihren Sixties-Frisuren, ihren knalligen Polyester-Klamotten wie in der Serie „Vorstadtweiber“ in ihrer subur-banen Hölle und vertreiben sich die endlos dehnende Zeit. Sie ratschen, terrorisieren die Nachbarin, vertreiben sich mit einem Callboy die Zeit und lassen ihrem Rassismus freien Lauf: Phaedra ruft die Polizei und beklagt sich denunziatorisch über die feiernden schwarzen Nachbarn.
It‘s America, stupid
Regisseur Ersan Mondtag hat sich entschieden: Kein mythologisches Nirgendwo, kein säuselnder Gegenwartsbezug, sondern die amerikanischen Sechziger während des Vietnamkrieges. Auf der Bühne des Depot 1 im Schauspiel Köln verläuft rampenparallel eine Straße, an der drei Häuschen aufgereiht stehen, mal zweistöckig mit Südstaaten-Portikus, mal im Bungalostyle mit Pultdach – aber alle mit Garage oder Stellplatz und lustigen Tretautos. Die Welt hier ist knallbunt, der Himmel blau und übersät mit Schäfchenwölkchen. Zwischen ihnen hängt ein Screen als Sprechblase, der Bilder aus dem Innenleben der Häuschen zeigt. Eine amerikanische Vorstadthölle.
Ersan Mondtags Zugriff auf das Stück ist in mehrfachem Sinn radikal. Zum einen dekonstruiert er gleich alle drei Autoren – Seneca, Racine und Thomas Jonigk. Der Kölner Chefdramaturg hat in seiner „Überschreibung“ vor allem Textfragmente von Seneca mit Reflexionen über Klischees theatral-markierter Geschlechtlichkeit kombiniert, also die Rhetorik Phaedras, das Othering, die Angepasstheit, den Schönheitskult oder die hypertrophe Leidenschaft.
Oder Theseus als „bildgewordene globale genitale Übermacht“. Eine als Chronik benannte Figur wiederum steuert mythologisches und philologisches Wissen bei. Jonigks Zurichtung ist mehr Phaedra-Kommentar als „Überschreibung“. Theater erscheint als konventionelle Emotionsmaschine mit unverrückbaren Rollenzuschreibungen. Mondtag macht mit dieser Überschreibung kurzen Prozess. Er streicht die reflektierenden Texte zusammen, unterspielt sie oder lässt sie wegnuscheln. Und selbst der Ursprungskonflikt (dass Phaedra ihren Stiefsohn Hippolytos begehrt, dass er sie brüsk zurückweist, weil er angeblich Aricia liebt, dass Oenone ihn daraufhin bei Phaedras Ehemann Theseus als Vergewaltiger denunziert) wird aus seiner vermeintlichen psychologisierenden Tragik in die Komik getrieben und das heißt in die radikale Veräußerlichung bzw. Typisierung – auch weil Mondtag mit Halbmasken (Ausnahme: Phaedra) spielen lässt und die Körper seiner Schauspieler:innen mit Bodysuits versieht.
Das Drama aus der Leere
Das große Drama entspringt ganz lapidar aus der Leere und Einsamkeit, die Phaedra als Dramaqueen des Suburbanen zu füllen versucht. Sie wartet seit Jahren auf ihren verschollenen Mann Theseus und flüchtet sich nicht in ein reales, sondern eher in die Vorstellung eines Begehrens. Benny Claessens stattet die Figur mit einer inneren Unruhe, einer mitunter kindlichen Lebensgier, aber auch einem hemmungslosen Narzissmus aus, ohne sie je zu denunzieren. Die Peggy beziehungsweise Oenone der Lola Klammroth ist dabei weniger Amme, als Busenfreundin, mit der man sich einen Callboy teilt und die das Drama mit vorantreibt – schon weil der Mythos es verlangt. Sagt zumindest die Chronik in Gestalt von Margot Gödrös, die ihre Kommentare und Infos ganz lapidar einstreut, aber auch die übergriffige Nachbarin Phaedra mal mit der Winchester bedroht und beschimpft.
Drama muss also sein. Doch es funktioniert schon deswegen nicht, weil Yvonne Jansons Hippolytos nichts damit am Hut hat. Er ist einfach nur der good american guy von nebenan, der in Feinrippunterhose wichst, den Grill für die Gartenparty anwirft, mal kurz mit der romantisch-kitschigen Aricia (Kristin Steffen) Sex hat – und der Frauen eigentlich verabscheut. So lächerlich er als Figur allerdings erscheint, am Ende wird er nichtsdestotrotz zusammen mit Aricia einfach die Maske ablegen und völlig entspannt in ein Hollywoodglück von der Bühne abgehen. Tragik wird als theatrale Zwangsmaßnahme entlarvt und unterlaufen.
Ganz anders dagegen sein Vater Theseus (Benjamin Höppner), der ihn im Mythos eigentlich durch Poseidon für die angebliche Vergewaltigung Phaedra vernichten lässt. Bei Mondtag kehrt er explizit aus dem Vietnamkrieg zurück, lässt sich als Kriegsheld feiern, trägt die Stars and Stripes als Umhang – und hat sich einen Vietcong namens Peirithoos (Kei Muramoto) mitgebracht. Das Vorbild dazu heißt Agamemnon, der Kassandra als Beute aus Troja im eigenen Haus einquartierte. Peirithoos taugt als Gesprächspartner, fürs Opiumrauchen und fürs Bett – und wird von Theseus später mit rassistischen Ausfällen verjagt. So kunstvoll und handwerklich brillant Ersan Mondtag das alles verschränkt, die Entlarvung der Tragödie vor dem Hintergrund eines Gegenwartsdiskurses um Diversität, Identitätspolitik, Repräsentation und Rassismus verstrickt sich dabei durchaus in Aporien. Der Verweis auf Amerika hat vielleicht selbst schon etwas von einer klischierten Geste. Phaedras Massaker am Ende, bei dem sie alle Figuren des Stücks außer der Chronik umnietet und anschließend über die Liebe sinniert, hat dann schon wieder etwas von der Übersteigerung eines Quentin Tarantino. Doch bei allen unterhaltsamen Passagen, so ganz kann der Abend letztlich nicht überzeugen.