Foto: Das Ensemble lauscht © Matthias Horn/Ruhrtriennale 2019
Text:Andreas Falentin, am 22. August 2019
Satz für Satz, Wort für Wort spricht der Schauspieler Josef Ostendorf die berüchtigte Anti-Semitismus-Rede Karl Luegers aus dem Jahr 1894, jenes Bürgermeisters, dem die Wiener noch heute mit einem gewaltigen Denkmal und der Benennung einer Prachtstraße ein warmes Angedenken bewahren. Bei Ostendorf scheint jeder Konsonant einen Subtext zu gewinnen, bis man es kaum mehr aushalten kann. Rassistische politische Reden – teils fiktiv, teils dokumentarisch, teils teils-teils – sind das Textmaterial für „Nach den letzten Tagen. ein Spätabend“. Dagegen geschnitten wird Musik von den Nationalsozialisten vertriebenen, internierten und ermordeten Komponisten aus Wien, Prag und Warschau. Die Austriazentrik des Abends erklärt sich daraus, dass Christoph Marthaler und seine Dramaturgin (und hier auch Textautorin) Stefanie Carp das Projekt ursprünglich für die Wiener Festwochen entwickelt haben. Für die Ruhrtriennale wurde die Produktion von 2013 jetzt aktualisiert und dem Raum angepasst.
Der ist, gerade für dieses Festival, außergewöhnlich, ist doch das Audimax der Bochumer Ruhr-Universität kein alter Industriebau, sondern eine funktionable Nachkriegsscheußlichkeit. Die sich aber für diesen Abend hervorragend eignet. Duri Bischoff hat nur kleine Schönheitskorrekturen vorgenommen, ein paar Vorhänge eingezogen, eine Fahne aufgehängt. Ansonsten wird bespielt, was da ist, von der schlanken Professorenbüste bis hin zur gewaltigen Orgel, auf der Bendix Dethleffsen erst einen geradezu völkisch aromatisierten Heimat-Schlager von Andreas Gabalier in donnernde Ironie hochtreibt, um dann im Anschluss in wenigen Takten Wagners „Meistersinger“-Vorspiel bloßzustellen.
Auch wenn es sich um eine Art Reprise handelt, ist zu konstatieren, dass Christoph Marthalers Theater sich verändert hat. Es ist direkter geworden. Die starke, integre Haltung, immer schon ein Zentrum seiner Arbeit, drängt an die Oberfläche, verdrängt gelegentlich die Poesie und scheut, wie im Februar bei „Häuptling Abendwind“ in Hamburg, den kabarettistischen Effekt nicht. Wenn diese Direktheit allerdings der über viele Jahre etablierten und verfeinerten Marthaler-Müdigkeit begegnet, entstehen Irritationen.
Nichts davon zu Beginn. Nach kurzem Vorgeplänkel, leiser, Konzentration schaffender Klaviermusik von Erwin Schulhoff und einem Einführungsmonolog von Walter Hess, getarnt als Einweisung für Reinigungskräfte, beginnt die Revue der Politikeräußerungen. Mit dem Schauspieler Stefan Merki, der in einer 200 Jahre fernen Zukunft, in der es hier eine fremdenfreie „Euro-Zone“ gibt, die Aufnahme des europäischen Rassismus ins UNESCO-Weltkulturerbe preist. Das Thema ist gesetzt. Größtenteils fiktive Zitatcollagen wechseln sich ab mit Dokumentarischem aus der jüngsten Vergangenheit und der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, in der das Produktionsteam offenbar die Entstehung eines dominanten Rassismus ansiedelt. Das Timing stimmt, die minimalistischen Aktionen meistens auch, die musikalischen Einschübe, etwa Viktor Ullmanns „Fragment“ oder ein Satz aus Ernest Blochs „Baal-Shem“ begeistern und bewegen. Auch weil Uli Fussenegger sie grandios für ein ungewöhnlich zusammengestelltes Musikersextett (Klarinette, Violine, Viola, Kontrabass, Akkordeon und Klavier) arrangiert und teilweise weitergeschrieben hat und weil Tora Augestad eine vielseitige Sängerin und tiefgründige Interpretin ist. Alles kulminiert in einer von Stefanie Carp zu Stilblüten wie „Wir sind Demokraten. Wir brauchen keine Opposition“ oder „Was es nicht gibt, muss man nicht integrieren.“ verdichteten Rede von Viktor Orban, die Walter Hess mit geradezu wehenden rollenden ‚R’s energiegeladen vorträgt.
Danach, die letzten 45 Minuten des gut 2½-stündigen Abends, schweigen die Worte. Es folgt „nur“ noch Musik, großartige Streichquartettsätze von Szymon Laks und Pavel Haas, rhythmisch grundierte Kammermusik von Alexandre Tansman und Erwin Schulhoff und immer wieder Ullmanns, von Uli Fussenegger immer wieder variiertes „Fragment“. Inmitten dieser feinen Kostbarkeiten, denen man sonst in heutigen Klassik-Konzerten kaum begegnen kann, hat Marthaler Luigi Nonos „Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz“ angesiedelt, elektronische Musik mit Chor aus dem Jahr 1966, die vom Band kommt und Abgründen von Schmerz und Verzweiflung nachspürt, so intensiv, dass man in jeder Viertelpause wünscht, es würde enden. Wenn Nono endlich die Ohren freigibt, geht die Musik dennoch weiter. Und hier verliert sich der Abend, verspielen Stefanie Carp und Christoph Marthaler einen Teil der Konzentration, kippt ihr Theater endgültig in eine Art Lecture-Performance mit ästhetisch erhobenem Zeigefinger. Den Abschluss mit fein a cappella modelliertem Mendelssohn nimmt man anerkennend hin, ist aber nicht mehr gefangen.
Dennoch fällt das Erwachen schwer, ist diese doppelte Erinnerung – an etwas, was man nicht kannte und an das, was man eigentlich nicht kennen will – auch eine produktive Erinnerung an die eigene persönliche und gesellschaftliche Verantwortung und weist als solche über das Theater hinaus. Schade nur, dass die, die diese Aufführung auch und besonders angehen könnte, Menschen mit identitärem oder gar rassistischem Hintergrund, sich dieser Erfahrung kaum aussetzen werden. Ihre Einschätzung dieses Abends zu erfahren wäre durchaus interessant. Und würde sicher weiteres Bühnenmaterial liefern.