Foto: Thomas Braungardt und Anne Cathrin Buhtz in "Ein Berg, viele" © Rolf Arnold
Text:Ute Grundmann, am 27. September 2020
Kann man die Welt erforschen, ohne sie zu erobern? Und was zeigt eine Karte, die aus dieser Erforschung entsteht – wirklich die Welt oder (nur) die subjektive Sicht darauf? Große Fragen, die die junge Autorin Magdalena Schrefel in ihrem Stück „Ein Berg, viele“ stellt und klug, aber undogmatisch beantwortet. Dafür erhielt sie 2020 den Kleist-Förderpreis für junge Dramatikerinnen und Dramatiker und nun die Uraufführung am Schauspiel Leipzig.
Das Stück hat die Ausstatterin Julia Nussbaumer in einen grauen, engen Schauraum gepackt. Auf der Kleinen Bühne, der „Diskothek“, schaut man zunächst wie auf ein Modefoto: In gläsernen Vitrinen posieren vier scheinbar gleiche Gestalten, in altmodisch-altrosa Kleidern und Schnallenschuhen, die Kunstperücken einen Ton heller. Doch die Mikroports verraten, dass sie auch etwas zu sagen haben – sehr bald. Magdalena Schrefel nimmt einen – wahren oder angeblichen – Geografen, der den „Berg Kong“ und damit auch den Landesnamen gefunden haben will, zum Anlass, über unsere europäischen Schritte in fremde Länder nachzudenken. Doch der Prolog führt zunächst zur Premiere eines Films, der erst noch entstehen wird, über eben diesen Weltvermesser. Ein bisschen Oscar-Glamour fährt Regisseurin Pia Richter auf, dazu eine lange, gescheite Abhandlung über die „Verfertigung des Schiffes im Segeln“. Diese Persiflage in dem Stück und dessen Inszenierung wollen vor allem eines: „mehrere Ebenen und Sichtachsen“ bieten, auf die Welt, deren Abbild und auf uns, die wir dieses Abbild für die Welt nehmen. Und so darf hier jede(r) mal der Geograf sein, der die Welt in einer Karte ordnen will. Aber das Ensemble aus Paulina Bittner, Thomas Braungardt, Anne Cathrin Buhtz und Patrick Isermeyer verkörpern auch die Kinder des Geografen, die Filmcrew, die „Wilden“, denen der Mann und später die Filmemacher begegnen.
Dabei gelingen Pia Richter bei ihrem Regiedebüt durchaus eindrucksvolle Szenen: Die bizarre Karte, ganzer Stolz des Erderkunders (Patrick Isermeyer), wächst im Vitrinen-Turmzimmer zum Gebirge. Aus einem Kohleeimer malt er eine weitere Karte, während im Glasschrank nebenan auch gezeichnet wird – in Weiß diesmal, doch der Glasreiniger wartet schon. Schön hintersinnig auch, wenn der Vater (diesmal Thomas Braungardt) seine „Entdecker und Eroberer“ spielenden Kinder fragt, wie man das denn spiele – und ein Selfie auf dem Pappelefanten macht. Aber auch mit seinen und unseren Klischees suchen Stück und Inszenierung die Konfrontation: Da wird auf Kisten und einer Topfpflanze „afrikanisch“ getrommelt; der „Eroberer“ wäscht mit Mangoessen den Geschmack seiner „wilden“ Geliebten weg. Ihren Namen will er gar nicht lernen, tauft sie „Pearl“ und spricht „Ficus“ wie „Fickus“ aus.
Doch leider fädelt Pia Richter zwischen die oft monologischen Szenen zuviel Action und Effekte, da wird getanzt und getobt, der Plastikhummer zur Siegestrophäe: Das wirkt, als traue sie dem Text allein nicht so ganz. Das verstärkt sich, als die Figuren zur Filmcrew werden, die das bisher Gesehene spiegeln. Ob der Geograf jemals aus seinem Turmzimmer herauskam, bleibt unklar, das TV-Team aber jettet dorthin, trifft statt auf Löwen auf Menschen, Megacitys, Elend. Paulina Bittner und Anne Cathrin Buhtz geben nun die toughen Frauen mit Kamera und Mikrofongalgen, reden blasiert, bebildern, was sie immer schon gewusst haben. Während das stilisiert-gemalte Meer alle zu holen droht, spielen sie „Schiffeversenken“. Und so geht am Knalleffekt-Schluss der 80 Minuten die leise Botschaft fast unter. Denn Magdalena Schrefel zieht bewusst den Bogen vom Geografen zu heutigen Flüchtenden. Während sie es nicht mal übers Meer schaffen, können die Filmer mit Taxi und Flugzeug nach Hause. Ein starkes Stück.