Foto: „Das Lied von der Erde“. Elisa Badenes, Jason Reilly, David Moore und Ensemble © Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett
Text:Petra Mostbacher-Dix, am 16. Januar 2025
Das Stuttgarter Ballett bekam Stehapplaus für „Mahler X Drei Meister“. Der Ballettabend, der im Stuttgarter Opernhaus Premiere hatte, vereint Choreografien von MacMillan, Béjart und Cranko.
Der Mann mit der Maske zieht die Fäden. „Der Ewige“ eröffnet den Reigen zum „Trinklied vom Jammer der Erde“ erst mit einem einsamen Mann, zu dem sich weitere gesellen, nacheinander in Drehungen, Attituden, Sprünge, Posen und Gesten einfügen, wie in einem Uhrwerk, um dann in Spiegelverkehrtes, Gegensätzliches und Zeitversetztes auszuscheren. Schon im ersten Satz seines „Balletts in einem Akt und sechs Sätzen“ zu Gustav Mahlers sinfonischem Liederzyklus „Das Lied von der Erde“ traf Kenneth MacMillan seinen eigenen Ton. Genauer gesagt trifft – das Stuttgarter Ballett hat das Stück, das 1965 ebendort uraufgeführt wurde, wiederaufgenommen.
„Lieder eines fahrenden Gesellen“. Henrik Erikson und Martí Paixà. Foto: Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett
Mahler im Ballett: Eine Pionierleistung
Es eröffnet den Ballettabend „Mahler X Drei Meister“ im Opernhaus. Ein Abend der zeigt, wie innovativ der legendäre Ballettdirektor John Cranko war. Dachte man doch im klassischen Tanz lange, schwere Kost „ernster Komponisten“ wie Mahler und Ballett, das gehe nicht. Und so wand sich MacMillan an seinen Freund John, als es am Royal Opera House London zu seinem Mahlerballett „Nicht für den Tanz“ hieß. Cranko indes bat ihn zur Umsetzung.
Eine, die damals auf der Bühne stand, studierte es nun ein: Ballerina und Ex-Direktorin Marcia Haydée. Und „Das Lied der Erde“, das Mahler 1908/09 schuf auf Basis von Nachdichtungen altchinesischer Lyrik von Hans Bethge, auch inspiriert von Vogellauten, hat nichts an seiner Frische verloren. Nicht nur, weil es um stets Gültiges geht, den Lauf des Lebens, Werden, Vergehen, Freude, Vergänglichkeit, von einem Paar symbolisiert. Auch weil MacMillan eine neue tänzerische Sprache fand wie weiland Mahler eine schnörkellosere musikalische, die live Mezzosopranistin Anna Werle, Tenor Airam Hernandez und Bariton Yannick Debus fein moduliert interpretierten.
Jason Reilly (v.l.n.r.), David Moore, Elisa Badenes und Ensemble in „Das Lied von der Erde“. Foto: Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett
Zu den Liedern ging MacMillan modern mit Masterplan zu Werke: Spitzen-Getrippel paart sich mit zeitgenössischem, geometrischem Formenspiel. Da wird skulptural posiert, gebeugt, gesprungen, Handgelenke geknickt, Finger fächerartig gestreckt. In einer Kulisse, die aus Lichtwechsel entsteht, in hautengen Leotards, deren sensibles Farbenspiel von gelb und beige, bis grün und rost rangiert. Exaktheit ist bei MacMillan Trumpf. Die Kompanie tanzt das auf den Punkt, legt Mahlers Emotionalität in Gesten und Mimik, vorne dran David Moore als Ewiger, Jason Reilly und Elisa Badenes als Paar.
Tanz zwischen Melancholie und Sehnsucht
Ausdruckstark auch Henrik Erikson und Martí Paixà im Pas de deux „Lieder eines fahrenden Gesellen“: Maurice Béjart choreografierte es 1971 zur gleichnamigen Komposition, Haydée holte es fünf Jahre danach nach Stuttgart. Ein untypischer, weil weniger extrovertierter Béjart, aber gerade durch die Momente des Innehaltens, Sinnens und Sehnens zwischen Sprüngen, Drehungen und Hebungen in den Bann ziehend in die Beziehung von Suchendem und Begleiter getragen von Melancholie. Mahler sah sich als dreifach heimatloser Außenseiter, als „Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen, und als Jude in der ganzen Welt.“
Derlei Themen des Menschseins trieben auch Cranko um. Und so setzte Intendant Tamas Detrich dessen – 1973 kurz vor seinem Tod kreierte – „Spuren“ an das Ende. Die Geschichte einer Frau, einem totalitären Regime entkommen, wird in der neuen Welt mit ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft konfrontiert. „Das Stück handelt von nichts anderem als von der Zeit, die ein Mensch braucht, um sich von seiner Vergangenheit zu befreien bzw. zu erholen“, sagte Cranko im Interview. Das dauere oft. „Buh“ schallte es bei der Uraufführung. Menschen mit nummerierten Körpern? Das erinnerte wohl zu sehr an dunkle Zeiten. Im Film vor dem Stück mit Haydée und Richard Cragun bei den Proben, beschreibt Cranko das Adagio aus Mahlers „Zehnter“: Das liebliche Thema schlage in wenigen Takten in Agonie und Folter um.
Elisa Badenes, David Moore und Statisterie in „Spuren“. Foto: Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett
Elisa Badenes gab dazu als Geflohene mit der Vergangenheit (Martí Paixà) ein aufwühlendes Duett, um in ein helles Morgen zu schreiten. Zurück bleibt ein Klos im Hals angesichts der Aktualität – und die Hoffnung, dass die Botschaft ankommt. Das Publikum jedenfalls applaudierte stehend mit viel „Bravo“.