Foto: „Ich hab noch nie“ an der Münchner Schauburg © Cordula Treml
Text:Manfred Jahnke, am 17. Juni 2021
In „Ich hab noch nie“ entwickelt Nelly Winterhalder, die aus der Freiburger Gegend kommt, aber schon lange in Norwegen lebt, die Geschichte eines ganz „normalen Samstags“, wie immer wieder betont wird. Fünf junge Menschen treffen sich zu einer Party, saufen, tanzen. Auf der Afterparty dann passiert es. Sie geht in sein Zimmer, legt den Rock ab, legt sich in sein Bett und Er missversteht die Situation und nützt diese übergriffig aus. Die grundlegende Thematik ist eindeutig, hier wird eine junge Frau gegen ihren Willen vergewaltigt, folgen müsste nun eine Gerichtsverhandlung. Winterhalder aber entscheidet sich für einen anderen Verlauf der Handlung, die nicht nur über den Satz eines ganz „normalen Samstags“ strukturiert wird, sondern auch durch das teils mit Flaschen gespieltes Spiel „Ich habe noch nie…“.
In der Rekonstruktion dessen, was passiert ist, geht die Autorin konsequent einen Schritt weiter, sie lässt die Geschehnisse aus den Perspektiven aller fünf Beteiligten erzählen, sodass ganz verschiedene Erzählungen entstehen. Kompliziert wird es noch durch das Ineinanderschieben zweier Zeitebenen, einmal auf die Zeit der Party am Samstagabend, zum andern aus einer zeitlichen Distanz: Die Betroffene hat Anzeige erstattet und nun versuchen alle fünf die Ereignisse an diesem „normalen“ Samstagabend zu rekonstruieren und zu untersuchen, welche Verantwortung jeder und jede Einzelne an dem Geschehen hat. Was diese Dramaturgie fordert, ist die intensive Teilhabe des Publikums, das aus den verschiedenen Perspektiven sich eine eigene Meinung bilden muss. Damit ist das Stück für ein junges Publikum eine große Herausforderung.
Winterhalder ist ein intensiver leiser Diskurs über die Frage nach der Verantwortung der handelnden Personen gelungen. Regisseurin Katharina Mayrhofer aber macht daraus bei der Deutschsprachigen Erstaufführung an der Münchner Schauburg lautes Discotheater (Musik: Hardy Punzel). Da fetzt die Musik und wechseln zum Beat die Farbscheinwerfer (Licht: Jochen Massar). Wo als Diskursraum eigentlich nur eine leere Bühne gefordert ist, steht nun ein großer Stromkasten, der nach außen den Look eines Hochhauses hat (und der manchmal auch Fenster aufleuchten lässt); aus seinem Inneren werden zugleich Kleider entnommen. Daneben steht ein kleiner Stromkasten, auf dem die Spieler*innen manchmal sitzen, manchmal auch Plastikbierflaschen holen. Wiederum daneben ein Streusandkasten, der, wenn er aufgeklappt wird, zu einem Bett wird. Rechts außen steht noch ein Briefkasten in Schräglage, der aber nur zum Anlehnen angespielt wird. Dieser Bühnenraum von Fiona von Bose verdeutlicht die Misere dieser Inszenierung: Sie kann sich nicht entscheiden zwischen naturalistischer Abbildung und Abstraktion. Warum denn nicht gleich ein leerer Raum? Denn keines dieser Requisiten bekommt im Spiel eine Bedeutung. Das Mobiliar steht dar und wird benutzt, wie es gerade passt; beliebig. Und auch Fiona von Boses und Florian Buders Kostüme passen genau in dieses Dilemma.
Wenn schon das Discoambiente und die vorgebliche Multifunktionalität des Mobiliars großen Klischeecharakter haben – Achtung Jugendtheater! –, so entspricht dem auch das häufige Herumbrüllen. Die Verantwortlichen glauben offenbar, das machen junge Menschen so, wenn sie sich in die Enge gedrängt fühlen. In der Tat gibt es in der Inszenierung von Katharina Mayrhofer nur wenige ruhige Stellen, wo die Intensität des Spiels zum Ausdruck kommen kann wie in der Beziehung des Er (Michael Schröder) zu seinem Freund (Janosch Fries), in der auch eine Entwicklung stattfindet, auf die die Regie wie auch auf die Rollenarbeit sonst nicht so großen Wert legt. Helene Schmitt als Sie versucht an ihrer Rolle herauszuarbeiten, was die Übergriffigkeit des Er mit Ihr macht, aber auch Schmitt muss sich in Schreiausbrüchen entäußern. In diesem Dreieck von Sie, Er und Freund verschwinden die Rollenprofile von Lucia Schierenbeck als Freundin der Sie und von Nele Sommer als Exfreundin von Er.
Was an dieser Inszenierung an der Schauburg traurig macht, ist, dass sie dem jungen Publikum nicht zutraut, in die Diskursivität der Vorlage einzusteigen und stattdessen meint, Klischees erfüllen zu müssen. Unterkomplex nennt man das wohl. Schade um das Stück.