Foto: Dominik Köninger (Figaro, links stehend), Tansel Akzeybek (Almaviva), Tanzensemble (Figaro-Doubles), Philipp Meierhöfer (Bartolo, im Hintergrund) © Monika Rittershaus
Text:Roland H. Dippel, am 10. Oktober 2016
Nach „American Lulu“ an der Behrenstraße und „Salome“ in Stuttgart waren die Erwartungen riesig an Kirill Serebrennikov und seine Sicht auf die zeitlose Musterkomödie nach Beaumarchais. Der hätte wahrscheinlich seine Freude gehabt an diesem schreiend komischen Kreativitätsschub mit Nachdenkpotenzial über Verrenkungen in Social Media und das Verblassen der alten analogen Welt. Dazu gibt es einen Rossini-Sound nicht ganz wie im Himmel, doch immerhin wie über den Wolken.
Hauptakteur der ersten halben Stunde ist ein Laptop, bevor das Spielgeschehen in Don Bartolos Antiquitätensammelsurium mit Wohnnische wechselt. Gespart wird nicht an Medien und Accessoires. Graf Almavava hat die Online-Identität „Sänger Lindoro“ und mit E-Gitarre soult er die durch Smartphone oft nahe Geliebte Rosina an. Er „Überträgt jetzt!“ und Rosina projiziert sich das Video zigfach an die Wand. Gepostet wird auf Deutsch, gesungen auf Italienisch. Figaro ist ein Retro-Schamane in Schwarz, er hat immer drei Doubles um sich, die ihm und dem Auftraggeber assistieren. Das gibt ihm schneidiges Kompetenzappeal, die Serviceleistungen zur Eroberung Rosinas sind dem Grafen Almaviva 25.000 Euro wert – click und „OK“.
Hauptfunktionsträger des von Alexey Tregubov entworfenen Bühnenbildes ist eine bühnenbreite Projektionsfläche für gefühlte 2700 SMS je Stunde und Rosinas Skript mit allen Floskeln heutiger Gefühlsrhetorik. Auf dem Besetzungszettel steht Ilya Shagalov für „Video“ mit Recht direkt unterm Bühnenbild, kundig und knapp zugetextet von Dramaturgin Johanna Wall. Übertitel sind unnötig, der Situationswitz explodiert mindestens einmal je Minute.
Rosina lebt beim vormodernen und medienresistenten Doktor Bartolo und dessen korpulenter Angestellter Berta, auch letztere ein Nerd mit Socialmedia-Defizit. Rosinas Beziehungsstatus ist „It’s complicated“, ihre Kavatine ein zur Hasstirade auf den dinierenden Bartolo verdichteter Zeitstopper. So zeigt Kirill Serebrennikov, wie sich die Figuren in der direkten Kommunikation längst nicht mehr auf einen schwingungsnahen Puls einpegeln können. Das erzeugt realen Frust und noch mehr Mediensog – oder Starrsinn. Rosina und Almaviva nähern sich körperlich, nehmen einander kaum wahr und tippen, tippen, tippen…
Immer laufen im Fernseher Schreckensbilder aus der großen Welt, die wie die (falschen) Asylanten mit „echter“ Polizei in Bartolos kleine Welt hineinschwappen. Almaviva kommt als „refugee“, nicht als Soldat. Nie sind er und Rosina sich so nahe wie zu ihrer Musikstunden-Arie: Sie androgyn in roter Trend-Jogginghose und Sportshirt, er wie Conchita Wurst im rosa Kostüm mit schwarzglasiger Riesenbrille. Schöne neue Gender-Welt: Man realisiert alle Gebrauchsanleitungen zur Vielfalt. Bartolos Antiquitätenplunder wird indes stückweise entsorgt, die Pelzmäntel für Rosina auch.
Am Ende herrscht lautstarke Begeisterung im Saal, trotz immer ernsterer Akzente. Fast quälende Länge hat der endlose Cello-Ton unter dem gedehnten Rezitativ, wenn Bartolo die vermeintlich abservierte Rosina in ein weißes Brautkleid von früher presst. Das ist Grausen pur und objektiviert Sympathien.
Alle Solisten – und erst recht die Hörer – profitieren von der Präzisierungslust von Antonello Manacorda. Es liegt wohl an der Akustik: Der Rossini-Klang des Orchesters der Komischen Oper wärmt kaum in den teils atemberaubenden Tempi. Antonello Manacorda ist der Figaro aller Dirigenten, verwegen flirtet er mit den natürlich immer gemeisterten Absturzgefahren und dem Spielgeschehen. Nie gab es Bogenschläge auf die Pulte mit vergleichbar sinnreicher Abstufung wie auf dem erst lange nach Beginn in den Graben gesenkten Orchesterpodium.
Der Maestro schafft es, alle sängerischen Individualitäten trefflichst zu funktionalisieren: Tansel Akzeybeks korrekte Koloraturen haben wenig emotionales Eigenleben und entlarven, dass hinter Almavivas Superprofil wenig echte Persönlichkeit steckt. Nicole Chevalier ist bei aller hochgradig schönen Koloraturgeläufigkeit keine typische Rosina. Neu sind bei ihr die warmen Mezzo-Farben der Mittellage, so klingt diese Superfrau wohl immer ohne die Online-Diktatur der virtuellen Zwänge. Dominik Köningers Bariton ist fast ein Baritenore, gleicht sich wie ein singendes Chamäleon an, sein Timbre verschwindet in den Ensembles. Tareq Nazmi, der junge Basilio, gibt sich zur Verleumdungsarie eher pragmatisch, elegant gleitet er auf dem mit Reißnägeln durchlöcherten Orchesterteppich dahin. Dass Julia Giebel als Berta ein wärmender Gegenpol sein könnte, bleibt aufgrund ihres kurzen Parts Vermutung.
Die größte Überraschung des Abends ist Philipp Meierhöfers Bartolo, kein Poltergreis und geiler Bock, sondern ein Dottore mit Liebe zu Kunst und Krempel. Der ergraute Schnauzer, die Stirnglatze, die Umgangsformen machen ihn vorzeitig alt – und ein Herzleiden. Seine Welt mit unverrückbaren Vorstellungen von „Frau-fügt-sich“ und „Mann-rührt-sich“ hat sich überlebt. Betulich ist seine Pirsch alter Schule zu Rosina und eklig sein Tätscheln mit unkontrollierter Entladung. Doch je mehr die Medieninszenierungen um ihn abstinken, umso mehr Größe gewinnt der doppelgesichtige Bartolo. „Starr steht er wie eine Statue“, um ihn ordnen sich im ersten Finale die Geister der Vergangenheit zur travestierten Prozession der männlichen Chorsolisten (Leitung: David Cavelius). Rossinis Musik glitzert dazu eisig. In diesem Sinne ist die so plastisch vergegenwärtigte Medienevolution echt und werktreu.