„Dimensions of Dance. Part 5“ überflutet den Zuschauer wie dahinströmender Fluss – ohne dass man dabei Gefahr läuft, davongewirbelt zu werden oder gar zu ertrinken. Die mit und für die Ensemblemitglieder des Ballett Augsburg kreierten Stücke „Bonds“ des aus Kreta stammenden Andonis Foniadakis, „Automata“ des Engländers Douglas Lee und „Under The Trees’ Voices“ als sensationellem finalen Höhepunkt der Südkoreanerin Young Soon Hue korrespondieren insofern wunderbar miteinander.
Präzise Struktur: „Bonds” von Andonis Foniadakis
Geradezu quecksilbrig startet zu Beginn ein in weiten, blassrosa-gerafften Hosen blütenförmig am Rücken liegendes Septett in Andonis Foniadakis‘ „Bonds“ durch. Die Bewegungssprache der gleich einem Schwarm quirliger Fische innerhalb eines Lichtquadrats hin- und herjagenden Gruppe ist atemberaubend virtuos und munter verspielt wie sich im Sonnenschein kräuselnde Wellen. Dennoch liegt dem Stück eine schier mathematisch präzise Struktur zu Grunde. In Wiederholungen werden die Interpreten immer wieder auf bestimmte skulpturale Formationen zurückführt: für Sekunden optische Ruhepole in einer unendlichkeitstauglich gebauten Choreografie voller überraschender Hebungen und Verwirbelungen.
In kürzester Zeit gen Himmel gestaffelte Figuren zerschmelzen nach ihrer Vollendung nur einen Wimpernschlag später. So sieht Durchatmen in Foniadakis’ Welt aus physischer Rastlosigkeit aus.
Schwarz und rot: „Under TheTrees´ Voices” von Young Soon Hue
Zum Schluss fesselt Young Soon Hue das Publikum inhaltlich greifbar mit ihrer eindrücklichen, turboschnell dahinrauschenden Hommage an den 2020 nach schwerer Krankheit verstorbenen Kontrabassisten, Komponisten und Dirigenten Ezio Bosso. Aber ihr „Under The Trees’ Voices“ besticht nicht bloß durch technisch originelle Famosität, die das Augsburger Ensembles einmal mehr absolut beherrscht. Der Tänzer David Nigro darf als einzig klar herausstechender Hauptrolleninterpret in einem mitreißenden Plädoyer für die Bedeutung von Musik als Bosso das Wort ergreifen und einen Dirigentenstab schwingen.
Mit Unterstützung der für den gesamten Abend verantwortlichen Kostümausstatterin Bregje van Balen besticht „Under The Trees’ Voices“ durch schlichte Farbigkeit, die für sich spricht, wenn ein Mann und eine Frau in Schwarz miteinander tanzen oder sich eine Frau in Rot zu einem Paar in Türkisblau gesellt. Trotzdem bleibt der Assoziation des Betrachters weitgehend überlassen, wer was oder wen darstellt.
Dass der fulminante Ballettabend im martini-Park – womöglich noch bis 2030 Ausweichspielstätte des Staatstheaters Augsburg – nun erstmals live von den Augsburger Philharmonikern (Leitung: Ivan Demidov) begleitet wird, zeichnet diesen unbedingt sehenswerten Mehrteiler zusätzlich aus. Ein Zufall obendrein: Alle drei Tanzschöpfer haben sich musikalisch für Werke italienischer Musiker entschieden.
Und so bestimmen – quasi als unsichtbarer Rahmen – die sich rhythmisch bzw. in ihrer akustischen Intensität mitunter virtuos zuspitzenden minimalistischen Klangkosmen von Ludovico Einaudi („Golden Butterflies. Day 5“, „Petricor“ & „Experience“) im ersten und Ezio Bossos titelgebende Symphonie Nr. 2 „Under The Trees’ Voices“ im letzten Teil des Abends den emotionalen Tenor und die dramatische Textur der Choreografien.
Experimentelle Objekte: „Automata“ von Douglas Lee
Dazwischen gibt Douglas Lee sein Debüt beim Staatstheater Augsburg Ballett unter Ricardo Fernandos Leitung mit Antonio Vivaldis barockem Mandolinenkonzert in C-Dur – passagenweise unterbrochen durch elektronische Soundkollagen des Komponisten Nicolas Sávva. Die stets fein voneinander abgesetzten Positionen der Gruppentänzerinnen und -tänzer in Lees’ Werkerinnern nicht selten an Gestalten aus der Commedia dell’Arte.
Thematisch lässt Lee das Publikum in ein fast schon maschinell wirkendes Universum abtauchen – angesiedelt irgendwo im Wurzelgeflecht zwischen „Coppelia“ und „Petruschka“. Womöglich liegen dort die Anstöße zu seiner Produktion, die im Zeitalter von Augmented Reality und KI der Frage nachspüren will, was unser Sein als Menschen wirklich ausmacht. Lees im Programm „Automatenduo“ benanntes Hauptpaar wird innerhalb der ihnen vorgegeben bewegungssprachlichen Grenzen hingebungsvoll verkörpert von Terra Kell und Afonso Pereira. Allerdings wollen die beiden – anders als der Titel „Automata“ es suggeriert – gar nicht roboterhaft eckig über die Rampe kommen. Vielmehr scheinen sie experimentelle Objekte eines recht schablonenhaft agierenden Kollektivs von Konstrukteuren in olivgrünen Overalls zu sein. Immer mal wieder tritt einer aus dieser Gruppe solistisch in den Vordergrund. Linear aufgereiht verschwindet man ab und an in der rundum herrschenden Dunkelheit.
Zentraler Moment ist eine Vernebelung, aus der eine Frau und ein Mann in enganliegenden hautfarbigen Ganzkörpertrikots hervorgehen: menschliche Aufziehpuppen, die körperlich geführt von ihren Erschaffern in ein Welterkunden starten – erst allein für sich, dann magnetisch à la Adam und Eva zueinander hingezogen.
Zum Schluss ziehen sich die sieben „Spielleiter“ zurück. Alleingelassen harmoniert das Paar synchron, am Boden sitzend, mit ausgetreckten Beinen. Ein beschaulich-schönes Bild. Bis beiden offenbar die neueroberte Lebenskraft und Energie ausgeht und ihre Oberkörper langsam flach nach hinten sinken. Toller Kontrast inmitten eines furiosen und komplett ausverkauften Powerabends. Die Suche nach einem Zusatztermin für „Dimensions of Dance. Part 5“ läuft bereits.