Foto: Antoine Bertran, Anastasia Gavrilenkova und Mihael Belilov in „Eden One“ © Andreas Lander
Text:Roland H. Dippel, am 15. März 2021
Der Garten Eden ist nicht zu verwechseln mit dem himmlischen Paradies, einer Wellnesslandschaft oder einem Strandhotel. Deshalb wäre sogar während Corona die Gleichung „Einsam plus Einsam gleich Zweisam“ allzu einfach und der Vielfalt menschlicher Glücksvorstellungen nicht angemessen. So gibt Magdeburgs Ballettdirektor Gonzalo Galguera vier Männern und einer Frau den ganzen großen Bühnenraum für ihre körperlichen und vielleicht spirituellen Erkundungen eines utopischen Ortes, den man aus seinen Sehnsüchten und Wunschvorstellungen zu kennen glaubt. Eigentlich hätten diese Spielzeit der hierzulande relativ unbekannte Klassiker „Paquita“ und ein Tanzstück nach Stefan Zweigs „Verwirrung der Gefühle“ auf dem Premierenplan gestanden – neuer Termin derzeit ungewiss.
Den Mitwirkenden der an weiteren Abenden bis April angesetzten Produktion „Eden One“ sind die beiden langen Lockdowns nicht schlecht bekommen. Betreffend Agilität und Kondition zeigen sie sich in jener ausgezeichnet guten Form, an die Gonzalo Galguera sein Publikum in den letzten Jahren mit abendfüllenden Handlungsballetten und stilsicheren Adaptionen romantischer Klassiker gewöhnt hat. Das ist ein gutes Zeichen für den Geist der Kompanie, egal ob die Kamera sie in halbnahen Einstellungen oder die Totale der mit einer weißen Projektionsfläche begrenzten Opernhaus-Bühne einfängt. Immer überträgt sich die energetische Topspannung derart vital, dass die Gesten und mit fast überakzentuierter Kraft ausgeführten Sprünge zu stark sind für die Kamera und ständig aus deren Sichtfeld hinauszudrängen scheinen. Für diese Leistung, die sich nicht mit einem reduzierten streamkompatiblen Bewegungsaufwand zufriedengeben will, kann man angesichts der aktuellen Unsicherheit hinsichtlich Öffnung von Kulturstätten nur dankbar sein. Beim Magdeburger Ballett bekommt man in physischen Vorstellungen generell mehr mit als vor den Endgeräten, selbst wenn auf den Screens die erstklassige Präzisionsarbeit des Ensembles in noch besserer Sichtschärfe erkennbar ist.
Mit prachtvoller Kondition geht es kaum um ein zärtliches Anschmiegen an die Oboensoli der zugespielten Barockmusiken von Händel, Vivaldi, Johann Sebastian Bach, Cimarosa, Johann Friedrich Meister und Alessandro Marcello, sondern um das Füllen des dunklen Raums durch fokussierende Aktionen. Berührungen gibt es trotz vorheriger Testungen nur selten und vor allem in den Duos von Mihael Belilov, Antoine Bertran, Admir Kolbuçaj und Giorgio Perego. Keine Ambitionen zum Alpha-Weibchen hat Anastasia Gavrilenkova und begibt sich – von Stefan Stanisic wie die Männer in fast identische helle Trikots gesteckt – in eine abwartende, fast scheue Haltung. Nur am Schluss gerät die Aufstellung fast ‚klassisch‘ und schwenkt dann doch nicht ins tänzerische Balzritual ein.
Gonzalo Galguera, der vor kurzem mit „Lo Schiaccianoci d’oro“ („Der goldene Nussknacker“) und dem „Premio delle Eccellenze della Danza“ gleich zwei der wichtigsten italienischen Tanzpreise erhielt, schickt das Quintett in ein funktional gestaltetes Eden von fast calvinistischer Nüchternheit. Seine den Tänzer*innen mit beträchtlichen technischen Herausforderungen zusetzenden Anforderungen wirken nie ziellos, einige Pas de deux reichen bis in den nächsten musikalischen Satz. So vermeidet Galguera den Eindruck, dass diese ‚Ballett-Miniaturen‘ wie die Suite von isoliert erarbeiteten Szenen wirken. In den Figuren erkennt man Selbstsicherheit und Selbstvertrauen. „Eden One“ wirkt also mehr wie die Darstellung eines sehr differenzierten Innehaltens denn als Flucht aus Orientierungs- und Tatlosigkeit.
Die ernsthaft gearbeitete und keineswegs verzweifelte Beschäftigungsration ist trotz der Inspiration durch Texte von Hilde Domin, Teresa de Ávila, Dulce María Loynaz und María Zambrano eher polyamourös als monogam. Die fast spartanisch wirkende Symmetrie der Körper zueinander wird durch die Schwarz-Weiß-Kontraste der Bühne verstärkt. Möglicherweise liegt das aber auch daran, dass der Glaube an eine sanfte Zukunft momentan in weite Ferne rückt. Trotzdem reichte diese knappe halbe Stunde, um den Heißhunger des digitalen Publikums nach echtem Theater und Tanz machtvoll zu steigern.