Foto: Szene aus Wilke Weermanns "Unheim" am Schauspiel Frankfurt © Felix Grünschloss
Text:Bettina Weber, am 30. Oktober 2022
Auf Iras Augen werden schmale, blaue Lichtstreifen erkennbar, mit leerem Blick starrt sie nach vorn. „Selbst das Nichts fehlt. Es fehlt an Nichts. Ein seltsames Gefühl, dass die Welt, die sie ab jetzt wahrnimmt, nicht mehr die Welt ist“, sagt eine Stimme aus dem Off. Ira, digitale Geisterjägerin in einer fiktionalen Zukunft, kümmert sich um Daten-Überreste von Verstorbenen oder Ausgezogenen, die in den Smart Homes ihrer Nachwelt als digitale Untote für Unruhe sorgen. Sie hat sich gefügt und „ans Netz“ anschließen lassen: Als einer der letzten Menschen ihrer Welt war sie noch ohne Implantate, die dafür sorgen, dass virtuelle die realen Wahrnehmungen überlagern. Nun aber hat sie den Eingriff bei Dr. Timo Rosnau zugelassen, zumal ihr neuer Auftrag es erfordert: Im Wohnprojekt Arcadia, ein von mehreren Menschen genutzter Wohnraum, dessen Bewohner sich in ihren virtuellen Wohnräumen gegenseitig herausretuschieren, soll es spuken.
Grusel der Zukunft
„Unheim“, das neue Stück (und Auftragswerk) von Wilke Weermann, dessen Uraufführung der Autor in den Kammerspielen des Schauspiel Frankfurt selbst inszeniert hat, trägt den Untertitel „Eine virtuelle Spukgeschichte“ und vereint auf geschickte Weise Science Fiction und Dystopie, Horror und schwarze Romantik. Jenseits aller visionären Fiktionalität erzählt das Stück sehr viel über gegenwärtige Ängste unserer Gesellschaft. Mit einer durchaus poetischen Sprache, aber auch klaren und schnörkellosen Dialogen hat Wilke Weermann ein Stück der Zeit geschaffen. Die Welt in „Unheim“ lässt Assoziationen an aktuelle Entwicklungen zu, man denke beispielsweise an Marc Zuckerbergs Metaverse. Mag sein, dass das für viele Menschen heute allenfalls ein Silikon-Valley-Hype ist – die Digitalisierung aber betrifft uns alle. Und sie verspricht nicht nur Verheißungen, oder wie Sevérine, Leiterin des Wohnprojekts Arcadia es formuliert: „Die Zukunft ist unheimlich. War schon immer so.“
Auch heute dürften selbst die größten Tech-Nerds froh sein, ihre VR-Brille bei Bedarf ablegen zu können. Was mit einer Gesellschaft geschehen kann, wenn diese Option sich den Menschen entzieht, erzählt der Abend auf markante Weise: In allem verschwimmen plötzlich die Grenzen – zwischen virtueller Wahrnehmung und materieller Realität, aber auch zwischen Leben und Tod. Im vermeintlichen Prestige-Projekt Arcadia ist es alles andere als heimelig, hier sind nicht nur die Server („sie haben es gerne kalt“) sowie die drei offiziellen Bewohner Tomasz, Thees und Sven eingezogen. In diesem Unheim wohnen und sterben, zuweilen unbemerkt, weitere Menschen… was am Ende nicht nur dank Iras Nachforschungen herauskommt: Die Sache stinkt wortwörtlich zum Himmel. Der Verwesungsgeruch der unsichtbaren Leichen, über die die Darsteller:innen dann und wann sogar stolpern, lässt sich nicht hinausfiltern. Zu guter Letzt hilft nur noch: neu formatieren. Mit schwerwiegenden Folgen.
Menschen der Zukunft
Optisch wirkt alles betont, ja vielleicht etwas zu künstlich: Die Bühne von Johanna Stenzel zeigt einen VR-Raum mit beweglichen Säulen, Kronleuchtern, Bäumen und Sitzgelegenheiten in verpixelter 2D-Optik (Pixel-Art: Sophie Alicia Herrmann), die ein wenig ans Zeitalter von Nintendo erinnern, und ihre Kostüme (voluminöse, steife Schaumstofffrisuren und -kleider, sämtlich in den Farben gelb und lila gehalten) lassen sich zuvorderst als Hinweis auf unsympathische Gleichförmigkeit lesen. Blaue leuchtende LED-Streifen auf den Augenlidern der Figuren suggerieren auf eindrückliche Weise die trügerischen Visionen der Figuren, und immer wieder scheint sich die Umgebung allein durch wechselndes Scheinwerferlicht trickreich zu verwandeln (Licht-Design: Johannes Richter). Und der Sound (Constantin John)? Vermittelt sehr hintergründig mal mehr, mal weniger Spuk.
Als Regisseur hat Wilke Weermann dem Personal des Stücks beinahe choreografisch einen ungelenken Gang, eine roboterartige Gestik verordnet. Als Autor hat er aber durchaus individuelle Charaktere entworfen, ohne sich im psychologischen Klein-Klein der Figurengestaltung zu verheddern: Da ist allen voran die sensible, vergleichsweise menschliche Ira, wunderbar bedächtig gespielt von Tanja Merlin Graf. Lea Beie spielt sowohl als Iras Schwester Edna als auch Séverine präzise, Wolfgang Vogler verleiht sowohl Dr. Timo Rosnau als auch dem unterschwellig aggressiven Arcadia-Bewohner Sven ein Stück klare Bosheit. Und Michael Schütz gibt den selbstgerechten Tomasz herrlich prahlerisch. Er hat zudem eine köstliche Nebenrolle als plumper Vater eines Hi-Fi-Verkäufers, den wiederum Torsten Flassig (genau wie den ängstlichen Thees) mit Sinn für Humor ausspielt.
Seelen der Zukunft
Dort, im Hi-Fi-Geschäft, versucht Ira zwischenzeitlich, ihren analogen Wecker reparieren zu lassen. So einfach gestrickt der Hifi-Verkäufer sein mag, selbst er erkennt, dass der Mensch mehr ist als die Summe seiner Einzelteile – oder Implantate. Wie lässt sich eigentlich eine Seele in immer digitaleren Zeiten definieren? „Unheim“ stellt wichtige Fragen unserer Zeit, bietet in Weermanns Uraufführung gleichermaßen geistreiche Denkanstöße wie gute Unterhaltung – und hat durchaus Nachspielpotenzial! Das Publikum dankte mit lautstarkem Applaus.