Auch heute dürften selbst die größten Tech-Nerds froh sein, ihre VR-Brille bei Bedarf ablegen zu können. Was mit einer Gesellschaft geschehen kann, wenn diese Option sich den Menschen entzieht, erzählt der Abend auf markante Weise: In allem verschwimmen plötzlich die Grenzen – zwischen virtueller Wahrnehmung und materieller Realität, aber auch zwischen Leben und Tod. Im vermeintlichen Prestige-Projekt Arcadia ist es alles andere als heimelig, hier sind nicht nur die Server („sie haben es gerne kalt“) sowie die drei offiziellen Bewohner Tomasz, Thees und Sven eingezogen. In diesem Unheim wohnen und sterben, zuweilen unbemerkt, weitere Menschen… was am Ende nicht nur dank Iras Nachforschungen herauskommt: Die Sache stinkt wortwörtlich zum Himmel. Der Verwesungsgeruch der unsichtbaren Leichen, über die die Darsteller:innen dann und wann sogar stolpern, lässt sich nicht hinausfiltern. Zu guter Letzt hilft nur noch: neu formatieren. Mit schwerwiegenden Folgen.
Menschen der Zukunft
Optisch wirkt alles betont, ja vielleicht etwas zu künstlich: Die Bühne von Johanna Stenzel zeigt einen VR-Raum mit beweglichen Säulen, Kronleuchtern, Bäumen und Sitzgelegenheiten in verpixelter 2D-Optik (Pixel-Art: Sophie Alicia Herrmann), die ein wenig ans Zeitalter von Nintendo erinnern, und ihre Kostüme (voluminöse, steife Schaumstofffrisuren und -kleider, sämtlich in den Farben gelb und lila gehalten) lassen sich zuvorderst als Hinweis auf unsympathische Gleichförmigkeit lesen. Blaue leuchtende LED-Streifen auf den Augenlidern der Figuren suggerieren auf eindrückliche Weise die trügerischen Visionen der Figuren, und immer wieder scheint sich die Umgebung allein durch wechselndes Scheinwerferlicht trickreich zu verwandeln (Licht-Design: Johannes Richter). Und der Sound (Constantin John)? Vermittelt sehr hintergründig mal mehr, mal weniger Spuk.
Als Regisseur hat Wilke Weermann dem Personal des Stücks beinahe choreografisch einen ungelenken Gang, eine roboterartige Gestik verordnet. Als Autor hat er aber durchaus individuelle Charaktere entworfen, ohne sich im psychologischen Klein-Klein der Figurengestaltung zu verheddern: Da ist allen voran die sensible, vergleichsweise menschliche Ira, wunderbar bedächtig gespielt von Tanja Merlin Graf. Lea Beie spielt sowohl als Iras Schwester Edna als auch Séverine präzise, Wolfgang Vogler verleiht sowohl Dr. Timo Rosnau als auch dem unterschwellig aggressiven Arcadia-Bewohner Sven ein Stück klare Bosheit. Und Michael Schütz gibt den selbstgerechten Tomasz herrlich prahlerisch. Er hat zudem eine köstliche Nebenrolle als plumper Vater eines Hi-Fi-Verkäufers, den wiederum Torsten Flassig (genau wie den ängstlichen Thees) mit Sinn für Humor ausspielt.
Seelen der Zukunft
Dort, im Hi-Fi-Geschäft, versucht Ira zwischenzeitlich, ihren analogen Wecker reparieren zu lassen. So einfach gestrickt der Hifi-Verkäufer sein mag, selbst er erkennt, dass der Mensch mehr ist als die Summe seiner Einzelteile – oder Implantate. Wie lässt sich eigentlich eine Seele in immer digitaleren Zeiten definieren? „Unheim“ stellt wichtige Fragen unserer Zeit, bietet in Weermanns Uraufführung gleichermaßen geistreiche Denkanstöße wie gute Unterhaltung – und hat durchaus Nachspielpotenzial! Das Publikum dankte mit lautstarkem Applaus.