Foto: Moritz Dürr (vorne) und Sven Hönig warten auf den „Anschluss“ © Sebastian Hoppe
Text:Michael Laages, am 26. Juni 2021
Geisterorte wie diesen könnte es womöglich wirklich geben tief in den Wäldern der sächsisch-böhmischen Grenzregion, bei Sebnitz etwa oder Cesky Jiretin…
Auf dem Teufelsberg (so hat sich das der tschechische Autor und Journalist Jaroslav Rudis ausgedacht für das Stück, das er im Auftrag des Staatsschauspiels in Dresden geschrieben hat, erstmals direkt für ein Theater) gab es mal ein Bahnstation und auch das Restaurant dazu; längst aber gibt’s hier keinen „Anschluss“ mehr – das ist eine Erklärung des Titels. Aber gesellschaftliche Kräfte gibt’s auf beiden Seiten der einsamen, verwaisten Grenze, die wieder einen wollen und planen: den „Anschluss“ des alten Böhmen ans alte Sachsen und umgekehrt. Vier ältere Herren hocken im Bahnhofsrestaurant beieinander, trinken Bier und manchmal einen Schnaps, der nicht nur von auffällig blauer Farbe ist, sondern wohl auch ziemlich viele Blaumacher hat; sie warten auf die Kommission, die den neuen „Anschluss“ offiziell verkünden will.
Der frühere Eisenbahner Havlik weiß genau, dass die Schienen wieder verlegt werden könnten, wenn es zum „Anschluss“ kommt; dass der zugeschüttete Tunnel wieder aufgegraben werden kann und das Bahnhofsgebäude in neuem Glanz erstrahlen wird. Darüber hinaus hat er krause Ideen – davon, dass Europa einst ganz flach war und alle Berge, von den Vogesen bis zur Hohen Tatra, vom Harz bis zu den Alpen, aus nichts als Leichenhaufen bestehen. Ferenz, einst Briefträger auf dem Teufelsberg, führt heute noch immer das große Wort – früher hat er fast jeden Brief geöffnet vor der Zustellung; der Mann wusste immer und weiß auch jetzt Bescheid. Charlie war mal Förster im Ort, wie schon alle Väter und Großväter zuvor. Er ist sehr still – und gibt er einmal eine Weisheit von sich, hat er sie erklärtermaßen vom Vater. Manchmal schreit er, ängstlich, traumatisiert – und Herden von Wildschweinen rasen durch Charlies geschundenes Hirn. Sacher schließlich war mal Rock-Musiker – und wurde engagiert, um die Proklamation für den neuen „Anschluss“ musikalisch zu begleiten. Immer ist ihm kalt, und am Ende wird er wohl erschossen. So, wie bei einem Jagdunfall, haben die bösen Geister vom Teufelsberg offenbar seit langem schon jeden Fremden entsorgt. Auch der Teufels- ist ein Leichen-Berg.
Was für eine schräge Geschichte! Sie siedelt irgendwo zwischen Wahn und Wirklichkeit und verbreitet wohlig-beunruhigenden Schauer. Unklar bleibt, ob die vier Protagonisten eher Übriggebliebene oder vielleicht doch schon Untote sind. Langsam delirieren sie durch Erinnerungen an längst vergangene Zeiten, immer wieder für Augenblicke aufgehalten durch Charlie, den Förster. Der trägt immer wieder einen Strick mit sich herum, als wolle er sich gleich an irgendeinen Baum in seinem Wald hängen – woran ihn Ferenz verlässlich hindert. Havlik entwickelt krause Theorien, schaut aber am zuversichtlichsten in die Zukunft nach dem „Anschluss“ – die neuen Zug-Ansagen für den alten Bahnhof gibt’s ja schon. Autor Rudis selber übrigens spricht sie. Aber Havlik weiß auch, dass diesseits und jenseits vom Teufelsberg, in Sachsen wie in Böhmen, nur steile, tiefe Täler lauern, voll von Absturz und Tod, mit dem Leichenberg dazwischen. Derweil hört Sacher, der Musiker, schon das ganze Stück über die Schüsse, die dann erst gegen Ende fallen – und einer davon trifft ihn. Gitarre und Verstärker, mit denen er nochmal richtig Rock-Alarm machen wollte, sind schon vorher verschwunden.
Auf den Autor Rudis wurde das Theater aufmerksam, als der Roman „Nationalstraße“ dramatisiert wurde; mit „Anschluss“ beweist Rudis jetzt, dass er auch von sich aus szenisch schreiben kann. Die Inszenierung von Alexander Riemenschneider (der ja demnächst zum Leitungsteam am Berliner Theater an der Parkaue gehören wird, dem hauptstädtischen Kinder- und Jugendtheater) belässt den Text absichtsvoll im Ungewissen. Tatsächlich könnten diese drei schrägen Schrate und der von ihnen engagierte Gast hier in der leeren Bahnhofskneipe mit Theatersaal hocken; aber immer bleibt zu spüren, dass hier alle auf einem großen Friedhof leben, einem Totenacker, virtuell und wirklich.
David Hohmanns Bühne sieht ein bisschen aus wie ein Real-Bild in Anna Viebrocks Tradition. Lili Wanner zieht den Figuren schrecklich normale Klamotten an – und verwandelt gegen Ende alle in die Pilze, die auch vorher schon beschworen worden waren: Steinpilz, Fliegenpilz, Pfifferling und (aua!) Fuß-Pilz. Tobias Vethake hat neben eigener Musik „We three“ von den „Ink Spots“ ausgegraben – Echo und Schatten ihrer selbst (wie im Song beschworen) sind diese ewig Verlorenen im toten Bahnhof am Teufelsberg.
Ein Autor bleibt hier zu entdecken. Wer mag, wird in dieser Phantasie voller Rätsel auch Spurenelemente von Bildern des identitären Nationalismus finden, wie er derzeit ja überall grassiert. Aber zugleich bleibt alles halbwegs irreal. Nach jenen Satiren am Abgrund klingt das, die auch frühere tschechische Autoren beschwören konnten – Jaroslav Rudis, Jahrgang 1972, ist unterwegs in der Tradition. Und die vier Dresdner Untergeher und Wiederaufersteher – Moritz Dürr und Holger Hübner, Philipp Lux und Sven Hönig – nehmen uns mit auf diesen ungewissen Weg.