Foto: "Die sieben Todsünden / Motherland", hier mit Inga Schäfer und Nora Buzalka © Paul Leclaire
Text:Georg Rudiger, am 17. Juli 2020
Die letzte Premiere einer „merkwürdigen Spielzeit“ kündigt Intendant Peter Carp im coronabedingt nur mit 230 (statt 890) Zuschauern besetzten Freiburger Theater persönlich an. Erst, wenn das Licht ausgeht, dürfen die Besucher ihren Mundschutz abnehmen und werden am Ende, Reihe für Reihe, vom schutzvisierten Personal ins Foyer gebeten, wo sie noch den Zettel mit ihren Kontaktdaten abgeben. Während andere Häuser die laufende Saison mehr oder weniger aufgegeben haben, stemmte das Freiburger Theater noch sechs neue Produktionen, darunter drei Uraufführungen und einen berührender Gustav-Mahler-Abend, „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ (Regie: Olga Motta), für den Generalmusikdirektor Fabrice Bollon neue Zwischenspiele komponierte.
Auch „Motherland“ von Kata Wéber ist eine Uraufführung, die von Kurt Weills Ballett mit Gesang „Die sieben Todsünden“ (1933) inspiriert ist. Das Haus der Familie in Lousiana, das vom Geld der sieben Jahre lang durch Amerika vagabundierenden Schwestern Anna 1 und Anna 2 gebaut werden soll, steht am Freiburger Theater schon auf der Bühne (Bühnenbild: Márton Ágh). Hier lebt die kleine Minime (Sinja Neumann) mit ihrer Mutter Elle (Nora Buzalka), die ihre Tochter für einen Schönheitswettbewerb vorbereitet. Die Pokale von früheren Erfolgen sind auf dem Küchenschrank drapiert. Von Beginn an herrscht in diesem Haus eine beklemmende Atmosphäre. Schon das Kämmen bereitet der Tochter Schmerzen. Beim Waxing („Du bist schon so behaart wie dein Vater“) und den Botoxspritzen werden die Qualen Minis noch gesteigert. Regisseur Kornél Mundruczó tritt selbst als Kameramann auf und bringt die Abgründe noch näher. Die „beauty pageants“, hochdotierte Schönheits-Competitions für Kinder in den USA, haben die ungarische Autorin Kata Wéber zu diesem düsteren Stück über eine degenerierte Mutter-Tochter-Beziehung bewegt. Das Drama lebt weniger von den nicht immer glaubwürdigen Dialogen, sondern von der atmosphärisch dichten Musik von Asher Goldschmidt und der beängstigenden Präsenz der Burgschauspielerin Nora Buzalka.
Der Übergang zu Kurt Weills „Die sieben Todsünden“ (Text: Bertolt Brecht) gelingt fließend. Jetzt ist die Mutter als Anna 2 in der Opferrolle. Die züchtig gekleidete Anna 1 (Inga Schäfer) verliert ihre Moral im kapitalistischen System (Kostüme: Pia Salecker). Und rät Anna 2 im schnellen Walzer „Stolz“: „Tu, was man von dir verlangt und nicht, was du willst, dass sie von dir verlangen.“ Die vierköpfige Familie (mit geschmeidigem Comedian-Harmonists-Sound: Roberto Gionfriddo, Jin Seok Lee, Junbum Lee, John Carpenter) macht sich im Haus breit und kommentiert zynisch das Geschehen. Das Philharmonische Orchester Freiburg spielt Kurt Weills eingängige, mit Banjo und Saxofon, mit Synagogengesang, Foxtrott und Walzer gewürzte Musik in der uraufgeführten Fassung für 15 Spieler von HK Gruber und Christian Muthspiel präzise und süffig (Leitung: Ektoras Tartanis).
Inga Schäfer verleiht den Songs die genau richtige Mischung von Leichtigkeit und Pathos, das am Ende beim Marsch der siebten Todsünde „Neid“ zu dissonanten Akkorden zunimmt: „Iss nicht und sei nicht träge, die Strafe bedenk, die auf Liebe steht. Bedenk, was geschieht, wenn du tätst, was dir läge, nütze die Jugend nicht, denn sie vergeht.“ Am Ende wird das Drama von „Motherland“ fortgesetzt und eskaliert. Nora Buzalka schreit als lieblose Mutter, die zum Monster wird: „Ich habe Dich erschaffen, mein Kind!“, während sich Sinja Neumann als Tochter ihren Tod wünscht, bevor sie am Ende nochmals die Stimme hebt: „Wir werden gewinnen, versprochen!“