Foto: Szene mit Floßhilde (Martina Mikelić), Wellgunde (Linsey Coppens) und Woglinde (Eliza Boom), © Matthias Baus
Text:Bernd Zegowitz, am 30. Januar 2023
Was bleibt vom Ring nach dem „Ring“? Würden die Rheintöchter Brünnhildes Erbe annehmen und ihren letzten Willen achten, dann würde der Ring dem Rhein zurückgegeben, und zwar in ‚aufgelöster‘ Form. Würden sie das Erbe zwar antreten, ihren Willen aber nicht ausführen, bliebe er in seinem durch Macht- und Herrschaftsverhältnisse stimulierten Zustand der Bearbeitung in der Welt zurück. Aufgeklärte Rheintöchter könnten aber auch heimlich mehrere Ringe geschmiedet haben, die demjenigen Alberichs gleichen. Die Kinder, die am Ende der neuen Stuttgarter „Götterdämmerung“ die vielen einander gleichenden goldenen Ringlein aus dem Rhein fischen, in ihre Kinderzimmer tragen und als Spielzeug nutzen, würden somit den Fluch brechen. Auf den einen Ring käme es also gar nicht an.
Raum zwischen Kirche und Plenarsaal
Marco Štorman, der den dritten Tag des Bühnenfestspiels im Stuttgarter „Ring“ übernommen hat, kann ganz neu anfangen, ist nicht gebunden an das, was seine Vorgänger:innen gemacht haben. Er zeigt eine in Auflösung begriffene Welt, in der alte Wahrheiten nicht mehr gelten, gesellschaftliche Verabredungen nicht mehr funktionieren und die Figuren darauf auf unterschiedlichste Art reagieren. Demian Wohler hat ihm die Bühne dafür mit germanischen, antiken, christlichen Elementen ausgestattet, die keinen einheitlichen Raum bilden, ineinander übergehen, an eine Kirche erinnern oder an einen Plenarsaal. Immer wieder werden monumentale Gemälde über die Bühne getragen, aufgestellt oder aufgehängt, die das Erzählte zum einen illustrieren, die aber auch unterschiedlich interpretiert werden können. Ein jeder kann sich halt seine eigene Wahrheit schaffen. Wie ein Damoklesschwert schwebt die von Wotan geschändete blutende Weltesche, die krebsartige Wucherungen aufweist und mit Blut selbst notdürftig am Leben gehalten wird, über allem und erdrückt schließlich den nach dem Ring greifenden Hagen. So rächt sich die Natur für begangenes Unrecht und so wirkt die Vergangenheit in die Gegenwart hinein und bestimmt auch die Zukunft.
Einzelschicksale
Individuell sind die Figuren gezeichnet, deren Geschichten ausführlich erzählt werden, die aber in erster Linie mit sich selbst beschäftigt sind. Siegfried lebt immer im Hier und jetzt, kennt keine Vergangenheit, ist in der anfänglichen Szene mit Brünnhilde in Fell und Feder gekleideter Naturbursche, später, am Hof der Gibichungen, trägt er dieselbe Einheitstracht (Kostüme: Sara Schwartz) wie Gunther, die an die Anzüge nordkoreanischer Herrscher erinnert. Er ist zur lächerlichen Figur verkommen, zum dauerblödelnden blondierten Geck, der auch noch die letzte Sympathie verspielt. Gunther ist ganz manipulierbarer Politiker, Gutrune an Politik eher uninteressierte Gattin, die nur einmal in die politische Handlung eingreift, als sie den streitenden Männern den Ring abnimmt. Hagen verfolgt seine eigenen Pläne, ist ein Getriebener, der aber Gefallen an der Manipulation anderer findet. Grandios ist die Szene mit den Mannen in der Halle der Gibichungen, die an die Erstürmung des Kapitols in Washington erinnert. Recht und Gesetz sind da schon längst mit Füßen getreten, die öffentliche Meinung ist gelenkt und die redliche Brünnhilde findet keinen Halt mehr. Sie steht wie die anderen Frauen ganz allein, ist abhängig von den Männern, den Vätern oder Ehemännern. Am Ende gibt sie den Ring zwar dem Rhein zurück, doch dann besteigt sie das Einhorn, mit dem Siegfried und sie in eine bessere Welt reiten. Über all den Einzelschicksalen vergisst der Regisseur allerdings Beziehungen der Figuren untereinander zu verdeutlichen, weshalb diese kaum nachvollziehbar agieren.
Schneidende musikalische Kälte
Cornelius Meisters Dirigat hat große Momente, dazu gehört die Szene der Rheintöchter am Beginn des dritten Aktes, in der sich alle Wollust des Gesangs offenbart. Die fabelhaften Streicher des Staatsopernorchesters lassen den Sängerinnen Raum zum sinnlichen Ausbreiten, spielen dabei aber bestechend klar und genau. Und auch Siegfrieds Trauermusik ist schneidend gespielt und kalt erzählt, ohne den Helden zu verherrlichen. Anderes geht unter im lautstarken Getöse oder im mulmigen Einerlei, bleibt beziehungslos nebeneinander.
Dort, wo das Dirigat überzeugt, beeindrucken auch die Sängerinnen. Gerade die Rheintöchter (Eliza Boom, Linsey Coppens, Martina Mikelić) und die Nornen (Nicole Piccolomini, Ida Ränzlöv, Betsy Horne), alle in die gleichen khakifarbenen Expeditionskampfanzüge gesteckt, singen ihre intonatorisch diffizilen Partien wunderbar klar und rein. Stine Marie Fischer ist eine solide Waltraute, Esther Dierkes eine schlanke Gutrune, Shigeo Ishino ein kräftiger Gunther. Patrick Zielke, der sowohl den Hagen als auch den Alberich singen muss, macht das zwar richtig gut, kann aber nicht überdecken, dass für die beiden Rollen doch unterschiedliche Klangfarben nötig sind. Ausgerechnet die beiden zentralen Rollen sind problematisch besetzt. Daniel Kirch hat einen dunkel timbrierten Tenor, der zum Siegfried passt, intoniert allerdings eigenwillig und singt die Stimmeinsätze zusehends mit großem Überdruck. Christiane Libor verfügt über eine beeindruckende Höhe, aber keinerlei Mittellage und gerade dort hat die „Götterdämmerungs“-Brünnhilde viel zu tun. Eine Bank ist der Stuttgarter Staatsopernchor (Einstudierung: Manuel Pujol).
Im Bemühen, allen Figuren gerecht zu werden, deren Identitäten deshalb aufzulösen, viele Geschichten zu erzählen, aber jede Erzählung in Frage zu stellen, die Offenheit des Mythos zu zeigen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verbinden, verheddert sich Štorman letztlich in den Fäden und Verästelungen des Stückes.