Foto: So sieht Rameaus Nymphe Platée an der Neuköllner Oper aus. © Neuköllner Oper
Text:Barbara Eckle, am 23. November 2012
Den Göttern ist langweilig. Sie sitzen blasiert an einem langen Tresen vor ausgelutschten Gläsern, im Hintergrund flackern tonlos Ausschnitte berühmter Schwarzweißfilme über eine Leinwand – da hat Thespis eine Idee zur Rettung der Stimmung: eine „inszenierte Eheschließung“ zwischen Jupiter und der unansehnlichen Sumpfnymphe Platée. Dies soll Juno von ihrer krankhaften Eifersucht kurieren. Und schon eilt man los, die Flause in die Wege zu leiten.
Jeder kennt sie, die mythologischen Geschichten des Göttervaters, der seine Gattin ständig mit unwiderstehlichen jungen Sterblichen betrügt, ihnen Herz, Hand und die Welt verspricht, sie korrumpiert und entehrt, um sie unversehens fallen zu lassen, sobald ihn die Affäre in Bedrängnis bringt. Ein Schema so abgegriffen, dass es selbst in der Antike kaum mehr lohnte, die bloße Geschichte wiederzugeben: Schon Ovid, dessen Poesie sich – ganz modern – in die weibliche Psyche hineinfühlt, öffnete in seinen „Metamorphosen“ die Opferperspektive solcher mythologischer Stoffe und schuf auf sublime Weise kritisch-aktuelle Deutungsebenen. Wo ihn diese pointierte Sensibilität enden ließ, ist bekannt. Heute droht dem Regisseur Verbannung aus dem Geschäft eher, wenn er diese Sensibilität vermissen lässt und damit entsprechende Erwartungshaltungen des Publikums enttäuscht.
Aber der Regisseur Robert Lehmeier erfüllt sie zumindest in einer entscheidenden Hinsicht – in einer ansonsten ziemlich klamaukigen, wenn auch unterhaltsamen Inszenierung von Rameaus komischer Ballettoper „Patée“ an der Neuköllner Oper, oder vielmehr einer in der Besetzung beträchtlich eingedampften Strichfassung davon. Höchste Konzentration und Sorgfalt widmet Lehmeier der Charakterzeichnung der Titelheldin Platée, die zwar mit Hässlichkeit gestraft, aber mit blinder Eitelkeit gesegnet ist: Sie glaubt, dass jeder, der sich ihrem Tümpel nähert, in Liebe zu ihr entbrannt sei. So zweifelt sie auch keinen Augenblick an der Wahrscheinlichkeit, dass Jupiter sie als Objekt seiner Leidenschaft auserkoren hat. Wie es enden muss, ist klar: Platée wird zum allgemeinen Gespött und verschwindet gedemütigt in den Sümpfen. Um die Komik noch zuzuspitzen, hat Rameau die Titelrolle für Countertenor gesetzt. Genau diesen Spieß dreht Lehmeier um: Platée ist bei ihm ein Transvestit. Sie schwelgt in einer melodramatischen Welt der großen Gefühle in Close-Up und Soft Focus. Pedicuriert, mit perfekt gewachsten Beinen, bewegt sie sich in himbeerfarbenem 50er-Jahre Badeanzug und geblümtem Morgenrock von Pose zu Pose und verschmilzt mimisch und gestisch immer wieder mit Grace Kelly, Ginger Rogers, Ingrid Bergmann und Marilyn Monroe, die sich hinten in so wildem Potpourri überblenden, dass Gott erbarm.
Im Mann, der sich als Frau fühlt und gibt, offenbart Lehmeier hier eine Tragödie von ganz eigener Schönheit und wahrem, wenn auch verblendetem Gefühl, das nur in der Illusion Erfüllung findet. Damit ist ihm eine kritisch relevante Umdeutung gelungen. Dass sich diese fragile tragische Dimension gegen die unzähligen plumpen Regiemätzchen durchsetzt, ist vor allem dem Schauspieler und Countertenor Armin Stein zu danken, der Platées Verletzlichkeit hinter ihren Posen so täuschend echt zum Ausdruck bringt, dass man nur in ehrlichem Mitgefühl für diese tapfere Antiheldin aufgehen kann. Selbst Steins abrupte Wechsel aus der sonoren Falsettstimme in tieferes Register wirken herzzerreißend und den Gefühlswallungen angemessen.
Dass es kaum einen zuverlässigeren Spaßgaranten als die Travestie gibt, ist Lehmeier offenbar nur zu bewusst. In der Tat, es scheint den ganzen Abend lang nur einen Witz zu geben, über den aber unermüdlich gelacht wird: Männer in Tütü-Röckchen tänzeln schwungvoll mit effeminierten Gesten durch eine halfpipeartige Vertiefung im Bühnenboden (Ausstattung Markus Meyer). Schwulenballett ad nauseam. Amor (Mélanie Gardyn) taucht als Glitzercowboy mit Knarre auf und fordert mit lodernder, körperhafter Stimme sein Recht, es bilden sich mehrere gleichgeschlechtliche Paare; nur Zeus, der in aufgeblasen machistischer Carrabinieri-Montur die sensible, ernsthafte „Braut“ rührend aus dem Konzept bringt, zögert mit der Eheschließung, bis Juno (Lydia Zervanos), die zuvor noch ihren Frust an einem Cello ausgelassen hat, mit scharfkantigem, glasklarem Sopran furios in die Falle geht.
Alles andere als gelungen ist die musikalische Umsetzung unter der Leitung von Hans Peter Kirchberg – oder vielmehr der Ansatz zur Umsetzung, der sich im Orchester über weite Strecken wie eine erste Leseprobe anhört. Reduziert auf drei Streicher, zwei Holzbläser, Klavier und Cembalo, bleibt ohnehin nicht viel Raum für klangfarbliche Nuancen; wenn dann diese kammermusikalischen Stimmen aber unsauber gehudelt sind, muss man sich tatsächlich fragen, ob es vielleicht nicht doch zum Besten ist, dass das Orchester akustisch unvorteilhaft hinter der halbtransparenten Leinwand platziert ist.
Die Leistungen der Sänger lassen vor allem in der Ensemblearbeit rhythmisch und intonatorisch einige Wünsche offen. Das einzige, was an diesem Abend nicht vollkommen auseinanderfällt, sind die Tanzschritte der Synchronchoreographie. Alles sehr schön, doch wenn die Musik im Musiktheater nicht funktioniert, bleibt nun einmal nicht gutes Theater, sondern nur misslungenes Musiktheater übrig. Vergeblich wartet man auf eine musikalische Entsprechung zu der Differenzierung, die Lehmeier in der Führung der Titelfigur erreicht, und die der Komödie eine Dimension der Tiefe verleiht. Gelegenheit böte Rameaus Partitur in Hülle und Fülle. Natürlich versäumte Rameau nicht die offensichtliche Gelegenheit, anhand der lasterhaften Göttergesellschaft der Versaillesschen Aristokratie den Spiegel vorzuhalten. Ein kritischer Spaß zum rechten Zeitpunkt musste bei Hofe nicht zwingend den Kopf kosten. Im Gegenteil, dem Erfolg von „Platée“ verdankte Rameau sogar die Ernennung zum Hofkomponisten. Auch für Lehmeier und das darstellerisch begabte Ensemble kein Exil, nur tosender Beifall für die leichte Unterhaltung.