Foto: Szene aus der Nürnberger "Elektra" mit Rachel Tovey (Elektra) und Mardi Byers (Chrysothemis). © Ludwig Olah
Text:Wolf-Dieter Peter, am 4. April 2012
Der finale Knalleffekt ist eine Entscheidung von Schauspielregisseur Georg Schmiedleitner: der im Exil herangewachsene Orest kehrt zur tödlichen Bestrafung von Mutter Klytämnestra, die mit Liebhaber Aegisth ja den Vater Agamemnon ermordet hatte, heim; er steigert sich mit der im Hinterhof wie ein Tier gehaltenen Schwester Elektra in einen Racheblutrausch hinein, bringt Mutter und Liebhaber um – und erschießt zu einem Orchesterschlag auch noch die zwischen Freude und Entsetzen schwankende Schwester Chrysothemis… im grellen Gegenlicht einer Scheinwerferwand steht ein nun enthemmter Killer als Schattenriss – Blackout.
Über diese im antiken Mythos nicht zu findende Verschärfung von Orests grauenerregender Sohnesrolle kann man streiten. Doch zu Recht setzte in Nürnberg nach einigen Schrecksekunden angesichts der erschlagenden Wucht des ohnehin fürchterlichen Finales befreiender Bravo-Jubel ein – Katharsis, wie das die griechischen Dramatiker wollten. Denn der neue, junge GMD Marcus Bosch hatte mehrfach die psychologischen Raffinessen und Tücken der großen Streitgespräche zwischen den drei Frauen auch in fein gezeichnetem Piano gestaltet, dann aber – getreu Richard Strauss’ berühmtem Satz, dass er zu einem Muttermord keine Kammermusik komponieren könne – mit der Staatsphilharmonie Nürnberg fulminant, wuchtig und mehrfach „katastrophisch“ aufmusiziert: gigantische Tragödienmusik. Dazu stand mit Richard Kindleys sexbesessenem Transvestiten Aegisth, mit Mardi Byers Lolita-hafter Chrysothemis, dem schon als Skinhead auftretenden Orest von Jochen Kupfer und der zutreffend mit weiblichen Solistinnen besetzten achtköpfigen Entourage von Dienerinnen ein szenisch und vokal rollendeckendes Ensemble im Innenhof eines einst weißen, nun aber heruntergekommenen Palast-Bunkers: mal intrigant fies, mal kalt sexy, mal kühl berechnend in Stefan Brandmayrs gewollt inhumaner Bühne.
In ihrem Zentrum hat Elektra aus der Karosserie des Vater-Autos eine mit Kerzen und Blumen geschmückte Trauerkapelle gemacht. Diese deformierte Lebenswelt steigerten Lichtmeister Karl Kornberger und Regisseur Schmiedleitner dann durch Lichtwechsel und die surrealen Auftritte eines Bewegungschores: Rachegeister mit Beilen, Staffage von Sex-Parties, blutüberströmte nackte Menschenopfer mit Tierköpfen – sichtbarer Horror einer in Psychosen, Rauschgift und wüster Sexualität untergehenden Diktatur. Deren Zentrum war die von Exzessen und Alpträumen angekränkelte Klytämnestra von Daniela Denschlag, hochgewachsen, schlank, trotz Krücke noch als Grande Dame auftretend. Ihre Altstimme kontrastierte herrlich zum dramatischen Sopran-Stahl der Engländerin Rachael Tovey. Ihre üppige Heroinenfigur hatte Regisseur Schmiedleitner mit seiner überlegten Personenregie zum Bild einer deprivierten, ungeschlachten Außenseiterin geformt: mal erschreckend, mal bemitleidenswert mit schönen Pianotönen, nie peinlich, am Ende enthemmt im Blutrausch zu Tode tanzend und zuckend – eine furioser Tragödienmittelpunkt, zu Recht mit Dankesjubel überschüttet.