Foto: Margot Gödrös, Yvon Jansen, Johnny Hoff und Merle Wasmuth in der Kälte der "Verdammten" © Birgit Hupfeld
Text:Detlev Baur, am 8. Dezember 2019
Luchino Viscontis Film „Die Verdammten“ („La caduta degli dei“) ist im Theater ein gern genutzter Stoff. Der 50 Jahre alte Film über eine Industriellenfamilie, die sich gleichsam im Schatten des Reichtstagsbrandes eng mit der nationalsozialistischen Regierung verbindet, ist eine melodramatische Kolportage, die mehr mit Shakepeares „Macbeth“ als mit der Familie Krupp gemein hat. Am Ende sind die meisten Familienmitglieder entsorgt oder getötet, der degenerierte Kinderschändersohn Martin bringt auch seine machtgeile Mutter um, Obersturmbannführer von Aschenbach hat das Unternehmen im Griff.
Johan Simons begann mit einem „Fall der Götter“ seine Karriere in Deutschland vor knapp 20 Jahren. Er entschlackte die Filmoper zu einer unerbittlichen Enthüllung menschlicher Grausamkeiten. Ersan Mondtag betont nun am Schauspiel Köln auf der Breitwandbühne der Dauerübergangsspielstätte das Gruselige des Stoffes und schafft damit ein einfaches, aber deutliches wie beeindruckendes Bild einer unterkühlten Familie und Gesellschaft. Der Regisseur und Christine Ruynat haben Reste einer mit schwarzem Holz ausstaffierten Villa ins Zentrum der Bühne gestellt, an den offenen Seiten stehen Tannen im tiefen Kunstschnee, von oben rieseln über die zweieinhalb Stunden unablässig Schneeflocken, auch ins offene, unwirtliche Haus. Dazu gibt es Käuzchenschreie und sieben chorische Schweinezombies, die sich zu Beginn vom kühlen Grund erheben. Vor einem großen Kinderbild, das nach einem Foto des kleinen Adolf Hitler gestaltet ist, haben schon die Kinder nichts zu lachen; den ersten Auftritt hat ein alleingelassenes Mädchen im häuslichen Schnee.
Mondtag und das sehr geschlossen auftretende Ensemble zeigen von Beginn an also eine schockierende Familienbande. Die neun erwachsenen Familienmitglieder schleichen wie in einem Alptraum im und um das Heim herum: Benjamin Höppner gibt einen brutal wirkenden, Göring-ähnlichen Konstantin von Essenbeck, der seinen sensiblen, schöngeistigen Sohn Günther (Johnny Hoff) vom Klavier weg in den Aufsichtsrat (beziehungsweise den zentralen Tisch der Familie) zerren möchte; Margot Gödrös spielt einen geisterhaften Patron Joachim, der ohenhin bald vom Emporkömmling Friedrich Bruckmann (Elias Reichert) erschossen wird. Herbert (Yuri Englert) und seine Frau Elisabeth (Merle Wasmuth) sind zwar die menschlichsten Figuren und bald Opfer der familär-firmeninternen und zugleich politischen Fehden, wirken in Teresa Verghos Kostümen aber ebenfalls als inhumane, deformierte Wesen. Witwe Sophie (Yvon Jansen) und Aschenbach (Nicolaus Lehni) sind die fähigsten Strippenzieher dieser abstoßenden Gesellschaft. Erbe Martin (Ines Marie Westernströer) schließlich ist nicht nur sexuell desorientiert, sondern auch moralisch und geistig völlig haltlos; die geschlechterübergreifende Besetzung bringt da – wie auch beim Seniorchef der Margot Gödrös – weitere Brüche in die Gestalt. Wenn Martin am Ende nach der ganzen Macht greift und seine perfide Mutter, hervorragend von Yvon Jansen gespielt, tötet, geht die Entwicklung über das anfängliche Bild der Figur nicht mehr hinaus. Insgesamt jedoch gelingt es dem Ensemble auf der statischen Bühne und in den strengen Kostümen durchaus, den Figuren Format in immer böseren Verwicklungen zu verleihen; auch diese Zombies sind oder waren einmal menschliche Wesen.
Der Gruselfamilienfilm ist von Beginn etabliert, er entwickelt sich mit opernhafter Klavier- und zunehmend auch Streicheruntermalung zum opernhaften Melodram mit ruhigen, erschreckenden Statements der Familienmitglieder und des Killer-Chores. Damit schafft es Mondtag wieder einmal beeindruckende Horrorszenarien auf die Bühne zu malen und atmosphärisch zu etablieren, allerdings ohne dramaturgisch hartnäckig nachzubohren. Menschliche Kälte in der Familie wird plakativ mit einer faschistischen Gesellschaft verbunden. Damit macht es sich die Inszenierung etwas leicht. Als empörter Aufschrei ist das aber durchaus eine legitime Form politischen Theaters. Als Sittengemälde einer inhumanen Gesellschaft sind diese „Verdammten“ großes Schauspiel.