Foto: Dem Liebeswahn verfallen, nicht zurechnungsfähig - Matthias Krummen in "Dichterliebe recomposed" © Bettina Stöß
Text:Andreas Berger, am 18. Februar 2019
Diesem Mann ist alles zuzutrauen. Zunächst sitzt er noch zusammengesunken am Tisch des hell ausgeleuchteten weißen Untersuchungsraums. Allein mit sich und seinen Erinnerungen an Liebeslust und -wehe, wie es Robert Schumann in seiner „Dichterliebe“ komponiert hat. Die Lieder stimmt Maximilian Krummen tapfer an, doch nur er folgt der originalen Melodie. Aus dem Orchestergraben des Kleines Hauses des Staatstheaters Braunschweig tönt die Musik von Christian Jost, neun Instrumente, die Schumann oft dissonant konterkarieren, zunehmend in minimal-music-artig flutende Schlenker auflösen und mit Vibraphon, Celesta und Harfe ins Unwirkliche verschwimmen lassen.
Nichts ist mehr eindeutig in dieser Musik. Darf der Eingeschlossene seiner Erinnerung noch trauen? Vergeblich rüttelt er an den Türen, drückt sich in die Ecke, feixt aber auch in die Überwachungskameras. In dem Umschlag auf dem Tisch findet er Fotos des Mädchens – auf dem Boden liegend wie eine Leiche. Wurde sie ihm umgebracht? Oder war er der Mörder, der nun auf seinen Prozess wartet? „Ein Jüngling liebt ein Mädchen, die hat einen andern erwählt. Der andre liebt eine andre, und hat sich mit dieser vermählt.“ Eifersuchtstat im Affekt? Vielleicht weiß er es selber nicht. Man muss an Schumanns bipolare Störung denken, gefühlslabile Menschen, die zwischen liebender Hingabe und Hass schwanken, an Gewalttaten, die quasi ein anderes Ich begeht und den Mörder verzweifelt zurücklassen.
Krummen zerreißt die Bilder. Der Sänger ist in Jeans und Kapuzenpulli ein moderner Junge wie aus einem Film von Rohmer. In Isabel Ostermanns karger Inszenierung wechselt er zwischen Gesten verstockter Unsicherheit, überlegenen Charmes und womöglich lauernder Aggressivität. Weinen geht in zynisches Lächeln über. Wie gesagt, dem ist alles zuzutrauen, und tief im Innern nagt womöglich eine verletzte Seele. Krummen spielt das perfekt, und im akustisch gar nüchternen Saal entwickelt er satten Bariton-Ton bei exzellenter Wortverständlichkeit. Tatsächlich gibt es Anflüge von Weichheit, wenn die Stimme (und das weinende Videobild) der (toten?) Geliebten durch die Übertragungsanlage klingen (Mezzo Zhenyi Hou übernimmt ein Traumlied) oder wenn er mit Brautschleier und Anzug aus dem Nachlasssack der Gestorbenen Erinnerungen (oder Wunschträume) ihrer Hochzeit nachspielt. Viele Erklärungen sind denkbar. Im Lied „Ein Jüngling liebt ein Mädchen“ hören wir ja nicht nur von dem unerhörten Jüngling, sondern auch noch von einem Dritten, den die Geliebte aus Trotz geheiratet hat, nachdem sie den Jüngling verschmäht und den von ihr Begehrten nicht bekommen hat. Der Gatte war in der Beziehung sicher nicht glücklicher als sie, wer weiß, wer hier wen umbrachte. Oder die Geliebte sich selbst.
Am Ende scheint die Einzeltherapie geglückt. Schumanns „Hör‘ ich das Liedchen klingen“ hat Jost mit Celesta, Vibraphon und ziehendem Streicherton irisierend verfremdet, die Erinnerung der alten Melodien scheint zu heilen. „Aus alten Märchen winkt es“ lässt den Mann ein Traumland entdecken, in das er auch in der Zelle kindlich-barfüßig entfliehen kann. Denn „die alten bösen Lieder, die Träume bös‘ und arg“, „meine Liebe und meinen Schmerz“ versenkt er am Ende im Lied in einem Sarg im Meer: Die Tür seines Gefängnisses lässt sich plötzlich öffnen, der Abschied ist vollzogen, die Rückkehr ins Leben denkbar.
Samuel Emanuel koordiniert aufmerksam die solistischen Instrumente. Die Orchestrierung überzeugt am meisten, wenn Jost der Stimme harmonisch hart entgegenarbeitet wie am Anfang. Immer öfter aber erliegt er einem Minimal-Music-Drive, fast einem Swing, der die Lieder zu nett macht. Später schieben sich die Klöppelklänge zu oft in den Vordergrund, da nutzt sich die Farbe etwas ab. Gut ist, dass Ostermann dem mit sachlich klaren, aber vielfältig zu einer Geschichte fügbaren Handlungen entgegenhält. Eine Begegnung, der man gern nachspekuliert.