Dass dabei dann auch mal was schief geht, liegt im Charakter des Experiments. Umso schöner, wenn der Mut mit dem Glanz des Gelingens belohnt wird, so wie jetzt bei dem Musiktheater nach Goethes Roman „Wahlverwandtschaften“. Das künstlerische Material hat Armin Petras – im Hauptberuf derzeit noch Schauspielchef in Stuttgart und in diversen Nebenberufen unter anderem als Regisseur und mit seinem Zweitnamen Fritz Kater auch als Stückeschreiber unterwegs – gemeinsam mit seinen erprobten Bühnenmusikern Thomas Kürstner und Sebastian Vogel zubereitet: eine radikal heutige Überschreibung von Goethes Roman in Form eines Hybrids zwischen Sprechtheater, Performance und Musiktheater. Und der im Schauspiel hochversierte Stephan Kimmig hat daraus mit den musikalischen Leitern Clemens Heil und Aki Schmitt sowie einem grandiosen Ensemble nicht nur eine „Inszenierung“ geschaffen – er hat diese „Wahlverwandtschaften“ als Bühnenwerk überhaupt erst zur Vollendung gebracht.
Womit auch das zweite Bremer Erfolgsmoment angedeutet ist, ohne das solche Abende nicht möglich wären: dass hier das Experiment vom gesamten Ensemble getragen und gestaltet und mit der vollen Power des Hauses auf die Rampe gehoben wird. Über Kimmigs Renommee als Schauspielregisseur muss man ja kaum Worte verlieren. Dass ein Haus abseits der Metropolen Künstler wie ihn, Petras oder Kürstner/Vogel überhaupt gewinnen kann, hat vermutlich nicht nur mit Geld, sondern auch mit Arbeitsbedingungen zu tun. Aber auch die Sopranistin Nadine Lehner als Charlotte und der Bass Patrick Zielke als ihr angetrauter Gatte Edouard (das „o“ geht auf Petras’ Konto) sind hervorragende Künstler, sie gehören zu den besten Sängern des Opernensembles, beliebt beim Publikum, enorm bühnenpräsent und voller Lust, sich auf Herausforderungen abseits der Opernkonvention einzulassen. Was in diesem Fall heißt: nicht mit dem Glanz ihres prächtigen vokalen „Materials“ zu prunken, sondern sich zurückzunehmen, vom Swing der Musik tragen zu lassen, Brechungen zu wagen.
Ähnliches lässt sich über Annemaaike Bakker als Christina und Robin Sondermann als Otto sagen. Beide sind exponierte Mitglieder im Bremer Schauspielensemble. Wie Sondermann den Otto als hyperaktiven, grundlos dauernetten Alles-Richtigmacher auf die Bühne zappelte, war ein großer, aber letztlich trauriger Spaß – und Bakker, die in der Rolle der von Petras hinzuerfundene Christina als Animateuse und Conférencière über die Bühne irrlichterte, war ein Ereignis: quirlig, charmant, verrückt und mit Mut zur unverschämten Publikumsansprache. In dieser Funktion standen ihr zwei Gäste erstens zur Seite und zweitens nur wenig nach: Die Stuttgarter Schauspielerin Hanna Plaß machte aus der von Petras zur Tilly aufgepeppten Ottilie eine manisch outrierte Selbstdarstellerin mit Borderliner-Tendenz und sang die von Kürstner/Vogel implementierten Rocksongs mit wunderbar kratzkehliger Sentimentalität. Und Markus John vom Hamburger Schauspielhaus-Ensemble war als „Wolfgang“ (Goethe, ick hör dir trapsen!) quasi der Räsonneur des Abends, eine Art avantgardistischer Lebens- und Liebeskünstler von vierschrötiger Energie, mit Hang zur Erbauungspredigt ebenso wie zur Berserkerpraxis, zweitweise in Ganzkörper-Reizwäsche.
Ja – aber worum ging es nun eigentlich? Thematisch kann man das, ausgehend von Petras’ Textvorlage, zunächst mal sogar einigermaßen genau benennen. Aus Goethes Romanhelden, die daran scheitern, dass die Chemie des Liebesmagnetismus ihre Lebensplanung unterminiert, macht das Libretto unter Verschiebung einiger Familienbeziehungen sehr heutige neoliberale Egozentriker und Glücksfetischisten. Die Liebe wird ihnen zu einer ständig zu optimierenden und genau deshalb auch ständig fragilen Lebensabschnitts-Seligkeit, das Glück zum alles andere dominierenden Lebensziel. Aber der Zwang, immer möglichst glücklich zu sein, setzt sie derart unter Stress, dass sie alles Mögliche sind: getrieben, gehetzt, verunsichert, verzweifelt – nur nicht glücklich. Dieser Widerspruch ist natürlich quietschkomisch – und tieftraurig zugleich.
Für das szenische und musikalische Gelingen ist aber in dieser Produktion ganz entscheidend, dass Text und Musik ihr Thema dramaturgisch keineswegs streng durchbuchstabieren, sondern lediglich Material und offene Räume bieten, die das gesamte Ensemble erst im Spiel konkretisiert. Kürstner/Vogels Musik ist offensiv eklektizistisch, extrem heterogen und zwar komplex, aber strukturell dennoch extrem durchlässig. Da irrlichtert alles Mögliche durch das in allen Instrumenten solistisch besetzte Orchester und die Vokalstimmen: Led Zeppelin und Johann Sebastian Bach, Eric Truffaz und Jacques Offenbach, Prince und Kurt Weill und zwischendurch auch immer mal wieder seriell-atonal klingende, spröde aufgesplitterte Texturen. Aber gerade wegen der Offenheit verlangt diese Musik in hohem Maß das improvisatorische, individuell interpretierende Zu-Ende-Bringen aller Beteiligten. Genau dadurch unterscheidet sie sich von Kürstner/Vogels „Anna Karenina“, die vor zwei Jahren noch viel zu sehr Oper sein wollte. Und das Ensemble nutzt unter der musikalischen Leitung von Clemens Heil (der inzwischen in Luzern bei Benedikt von Peter Musikchef ist) diese Freiräume mit hinreißender künstlerischer Vitalität.
Auch Stephan Kimmig steigt mit Verve und sicherem Formgefühl auf diese Offenheit ein. Er nimmt den Text als Spiel- Denk-, und Assoziationsanlass. Katja Haß hat ihm ein Zelt auf die Bühne gebaut, das schon für sich eine Metapher für Vorläufigkeit ist: Behausung auf Zeit, Kulisse fürs Lebensfest, das alle feiern wollen und nie gelingt. So mutieren sie zu trostlosen Glückclowns, die den Frohsinn immer verbissener simulieren: immer greller, verrückter, schriller. Das beschert den Zuschauern überbordend schräge und manchmal ziemlich rätselhafte Szenen – und einen Kostümreigen von Anja Rabes, der sich in ’zig Umkleideaktionen auf offener Bühne zur Inszenierung in der Inszenierung auswächst. Man sieht teils wunderbar witzige (Nadine Lehners und Robin Sondermanns herrlich bedepperte Bademodenschau), teils dekorative Videos von Rebecca Riedel. Und man sieht links an der Rampe drei altväterlich gekleidete Jugendliche, die alles beobachten und protokollieren. Was die sollten, habe ich nicht verstanden, die Aufklärung darüber aber auch in keiner Weise vermisst.
Die Musik ist allerdings alles andere leicht zu spielen. Insbesondere die solistisch geforderten (und anfangs auch etwas lauten) Orchestermusiker – auf dem hochgefahrenen Podium und in Kostümen, die wildes Freizeit-Zivil simulieren – sind gut sichtbar und sehr exponiert. Aber Clemens Heil hielt den Laden nervenstark zusammen und animierte die Seinen mit derart coolem Understatement, dass dennoch alles locker klang. Oder nein: Fast alles. Es gibt an diesem Abend einen dramaturgisch enorm wichtigen Kontrapunkt, und der liegt in einigen melodisch-ausdrucksvollen Gesangsnummern der Charlotte. Im Setting von Musik und Inszenierung ist sie die Figur, die am konsequentesten und kunstvollsten „vokal“ agiert, mehr noch als Zielke in der Rolle des Edouard. Dadurch hält sie den Kontakt zu einer Tiefendimension des Lebens, die sie in melancholische Distanz zu allen anderen setzt und dem überdrehten Glücks-Aktivismus um sie herum entfremdet. Nadine Lehner macht das darstellerisch und vokal wunderbar spürbar. Und Clemens Heil sorgt an den entsprechenden Stellen für genau die expressive musikalische Fokussierung, die sie dazu benötigt.
Am Ende gab’s Bravos für das Ensemble und ein paar Buhs für den Regisseur, ein Teil des Publikums schien etwas ratlos. Was verständlich wäre. Aber den Bremer Ensemble-Künstlern ist es zuzutrauen und auch zu wünschen, dass sie das Publikum noch einnehmen. Das extrem vitale Format, das sie alle miteinander geschaffen haben, hätte es wahrlich verdient.