Foto: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“ am Theater Koblenz © Matthias Baus
Text:Jan Fischer, am 3. Mai 2021
Ein Mörder wird erschossen. Ein Kind verstümmelt. Traumata bahnen sich ihren Weg durch verschiedene Leben. Und das meiste – vielleicht auch das schlimmste, man weiß es nicht – kommt noch. Mit „beretta Kaliber 22“ und „Hausmusik“ jedenfalls startet das Theater Koblenz die Webserie „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“ mit neun Uraufführungen in fünf Folgen, die sich mit dem Verhältnis von Wahrheit und Lüge befassen sollen, allesamt von Studierenden des Studiengangs Szenisches Schreiben der UdK Berlin verfasst und Markus Dietze in Szene gesetzt. Neue Folgen erscheinen jeweils sonntags bis zum 30.5, sie dauern je 20 Minuten.
Schon die erste der beiden Inszenierungen in der ersten Folge ist dabei ein Tiefschlag. „beretta Kaliber 22“ verhandelt den Fall der Mutter Marianne Bachmeier, die 1981 den Mörder ihres Kindes im Gerichtsaal erschoss. Der Mörder hatte damals ausgesagt, aus Notwehr gehandelt zu haben: Das Kind hätte ihn, den vorbestraften Sexualstraftäter, erpressen wollen mit der Drohung, seiner Mutter zu erzählen, dass er es unsittlich berührt hätte. Bachmeier ertrug diese – aus ihrer Sicht – Lüge nicht, die ihre Tochter vom Opfer zum Täter machte, und übte Selbstjustiz. Die Autorin Sarah Amanda Dulgeris wirft in „beretta Kaliber 22“ einen Blick auf unterschiedliche Perspektiven der Geschichte. Das Bild ist in Schwarzweiß gehalten, in einem perspektivisch verzerrten Raum, der verschattet im Dunkeln hängt; hier sitzen die Darsteller und Darstellerinnen auf Stühlen wie im Wartezimmer auf dem Amt und arbeiten sich, mal einzeln, mal chorisch, durch Dulgeris‘ Textfläche.
Hatte Bachmeier die Tat geplant, war es also Mord? Oder handelte sie im Affekt, war es also Totschlag? Wie spielt Bachmeiers Vergangenheit als Vergewaltigungsopfer mit in die Tat? Lässt sich die Tat vielleicht sogar rechtfertigen, war sie möglicherweise sogar eine Art Heldin, die, so heißt es im Stück, den Schuss „gegen eine allgemeine Ungerechtigkeit“ richtete? Wer ist Opfer, wer ist Täter? Wie sind die späteren Auftritte Bachmeiers in Talkshows zu bewerten?
Antworten gibt Dulgeris keine. „Welche Wahrheit wollt ihr denn hören?“, heißt es in dem Stück. Anhand von Bachmeiers Fall entfaltet die Textfläche einen beengenden Wirrwarr aus Perspektiven, denen es nie um Wahrheit geht – es geht um Deutungshoheit, Macht, um Inszenierungen, bei denen auch die Presse damals eine große Rolle spielte. Und die Wahrheit, sofern sie sich überhaupt herausfinden lässt, bleibt auf der Strecke.
„Hausmusik“, die zweite der Inszenierungen aus der ersten Folge von „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“ begibt sich in vertrautere Kindheitsgefilde, allerdings in die des vertrauten Kindheitshorrors. Die Autorin Rosa Rieck hat sich darin mit der Geschichte des Daumenlutschers aus dem „Struwwelpeter“ auseinandergesetzt. Es ist ein Dialog zwischen einer Mutter, so kühl wie eine Disney-Hexe, und ihrem Sohn, der gerne Konzertpianist werden möchte, aber leider nur noch acht Finger hat. Die Daumen sind ja ab. Eine leicht angeschrägte Kamera fängt den Dialog der beiden ein, dazwischen ist immer mal das Bild einer Linsensuppe mit zwei halben Würstchen darin geschnitten.
Die Ereignisse des Daumenlutschers werden hier als Ausgangspunkt eines sich immer weiter ausbreitenden Traumas genommen, als Symptom eines kaputten Verhältnisses zwischen überforderter und deswegen kontrollierender Mutter und einem von Gewalt traumatisierten Kind, das zwischen Auflehnung und Duckmäusertum schwankt, so dass der Grusel langsam über den Rücken läuft: „Ich habe dir eine Suppe gekocht, Mutter, du wirst sie essen von dem Tisch, auf dem eben noch die Daumen deines Kindes lagen“, heißt es einmal. „Hausmusik“ ist ein kleiner, feiner Psychohorror darüber geworden, wie Angst und Hilflosigkeit Familienkonstellationen zerstören oder toxisch anreichern, und wie das wiederum Leben zerstört.
Diese Folge erscheint wie alle weiteren Folgen auf stream.theater-koblenz.de.