Foto: Das Theaterparkett als Spielraum und ein Zeppelin als Projektionsfläche: Szene aus Vasily Barkhatovs Inszenierung von Bernd Alois Zimmermanns „Die Soldaten“ am Hessischen Staatstheater Wiesbaden. © Karl & Monika Forster
Text:Detlef Brandenburg, am 1. Mai 2016
Die Internationalen Maifestspiele 2016 am Staatstheater Wiesbaden mit Bernd Alois Zimmermanns „Die Soldaten“ zu eröffnen, einem gewaltigen Musiktheater-Monolithen der Nachkriegs-Avantgarde, der bis heute nichts von seiner Faszinationskraft eingebüßt hat und noch immer für jedes Opernhaus eine enorme Herausforderung darstellt: Das ist doch mal ein Statement! Und wenn dann auch noch die Sänger ihre enorm schwierigen Partien nicht nur „bewältigen“, sondern mit beachtlicher vokaler Intensität aufladen; und wenn der Abend, reich an Schauwerten und Bühnenaktionen, wie im Fluge vergeht und das Publikum am Ende begeistert applaudiert, dann ist damit doch schon viel gewonnen, oder? In der Tat: viel – nur leider nicht das Werk.
Dabei begann der Abend so vielversprechend. Vasily Barkhatov, geboren 1983 in Moskau, dessen steil ansteigende Karrierekurve ihn vom Mariinski Theater in St. Petersburg über das Bolschoi Theater in Moskau, das Theater an der Wien und das Mannheimer Nationaltheater bis nach Basel und jetzt nach Wiesbaden führte, hatte eigentlich eine tolle Idee: Er stellt die Raumordnung des Theaters auf den Kopf, spielt im Parkett und setzt die Zuschauer auf die Bühne und auf die Ränge. Das scheint perfekt zu Zimmermanns Idee des Theaters als „omnimobiler Raum“ zu passen, der die sogenannte vierte Wand hinwegfegt und als „Großraumgefüge“ zum totalen Spielraum wird. Und als Gloria Rehm in der Proszeniumsloge, wo die ersten Szenen spielen, die ersten Phrasen ihrer Partie sang, ahnte man schon, dass das eine spannende Interpretation der Marie werden könnte.
Bald allerdings schwante einem auch, dass die Raumlösung, für die sich Barkhatov und sein Bühnenbildner Zinovy Margolin entschieden haben, als Klangraum für Zimmermanns breitgefächerte, tief gestaffelte musikalische Strukturen denkbar ungeeignet ist. Ich saß auf der Bühne, von wo aus man einen sehr faszinierenden Blick hinaus in das opulente neobarocke Auditorium des Staatstheaters hat. Doch Zimmermanns Musik türmte sich, aus dem Orchestergraben aufsteigend, vor mir auf wie eine diffuse Klangwand ohne jede räumliche Struktur. Das riesige Schlagwerk wurde aus dem Orchesterprobenraum per Lautsprecher zugespielt und blieb dadurch seltsam ortlos im Klangbild. Ich hatte den Eindruck, dass Zsolt Hamar das musikalische Geschehen durchaus souverän lenkte und die Sänger aufmerksam führte. Aber der Sound wollte sich nicht entfalten. Auch die zugespielte (und von Zimmermann auch so vorgesehene) Musik wirkte eher irritierend als faszinierend. In der ersten Szene des 4. Aktes hörte man die (digitalisierten) Originalbänder der Uraufführung, auf denen die Patina einer längst überholten Technik liegt. Im Finale dann waren die zugespielten Klänge vom Staatstheater Wiesbaden selbst produziert, klangen aber ebenfalls sehr diffus und übertönten die Generalpause vor dem finalen Schreiklang, anstelle des Marschtritts ertönte ein Klatschmarsch der Komparsen im Parkett – die klangliche Überwältigung, auf die Zimmermann zielte, wollte sich so nicht einstellen.
Aber auch szenisch funktioniert Barkhatovs und Margolins Raumkonzept nicht wirklich. Denn sehr bald wird klar, dass sie mit ihrer Bespielung des Parketts den theatralen Raum gar nicht entgrenzen, sondern ihn lediglich als Kulisse nutzen wollen: Diese „Soldaten“ spielen tatsächlich im Theater, und zwar ganz konkret im Wiesbadener Staatstheater, in dem sich (im ersten Akt) eine etwas dekadente Adels- und Soldatengesellschaft des 19. Jahrhunderts an einer Aufführung delektiert. Komparsen besetzen das Parkett. Hinten, in der Mittelloge, taucht eine Adelsfamilie auf und wird mit Applaus begrüßt: ein Greis, knickbeinig und tatterig; eine Dame, hoheitsvoll und resolut; und ein Sohnemann im Operettenprinzen-Outfit (Kostüme: Olga Shaishmelashvilli). In der (von der Bühne aus gesehen) linken Proszeniumsloge lümmeln sich die Soldaten; rechts langweilt sich die bürgerliche Familie Wesener. Blicke gehen hin und her, Charlotte rezitiert aus dem Programmheft ein Gedicht von Jakob Michael Reinhold Lenz (dessen Drama Zimmermann als Textvorlage diente), die Soldaten verbreiten sich in zynischer Selbstgefälligkeit, Marie bandelt Desportes an – und als das Gewitter aufzieht, schießen ein paar Attentäter (huch!) die hohen Herrschaften in der Mittelloge über den Haufen. Danach bricht offenbar ein Krieg aus. Auf einem grauen Zeppelin, der spektakulär über die Köpfe der auf der Bühne sitzenden Zuschauer hinweg gen Parkett gezogen wird, tauchen Videoprojektionen des Wiesbadener Theatergebäudes auf (Video: Gérard Naziri). Schriftzüge dichten ihm eine Mutation zum Militärlager, zum Lazarett und schließlich zur Leichenhalle an, manipulierte Bilder zeigen schwere Kriegsschäden – in diesem Raum vollendet sich das Schicksal der armen Marie.
Nun war es zwar tatsächlich so, dass das von den Wiener Theaterarchitekten Ferdinand Fellner d. J. und Hermann Helmer von 1892 bis 1894 erbaute Königliche Hoftheater 1945 einen Bombentreffer erhielt und 1946 kurzzeitig durch US-Streitkräfte genutzt wurde. Die Videos jedoch zeigen das heutige Staatstheater mit den Anbauten von 1978, sie wollen also nichts Historisches dokumentieren – und von einer Nutzung als Lazarett oder gar als Leichenhalle ist meines Wissens auch nichts überliefert. Damit aber wirkt die Geschichte, die Barkhatov dem Theatergebäude andichtet, um die Handlung darin zu verorten, seltsam willkürlich, und vor allem: Sie macht das musiktheatrale Geschehen klein und anekdotisch – ein Regieeinfall, der genau das Gegenteil von Zimmermanns intendierter Entgrenzung der Handlung in eine Weltzustandsbeschreibung bewirkt. Zudem zwingt er den Regisseur, die Handlung mit stetig abnehmender Plausibilität umzumodeln – gipfelnd darin, dass die im ersten Akt gemeuchelte Adelsfamilie im dritten Akt als Gräfin de la Roche nebst Sohn und Bedientem wieder aufersteht, was als Maries Traum „vom Aufstieg“ deklariert wird, in dem die Grafenfamilie dann gleich noch einmal von den Soldaten kujoniert wird. Das ist dann wirklich ganz schön verblasen.
Was trotz alledem für diese Aufführung einnimmt, ist das tolle Sängerensemble – allen voran die faszinierende Marie von Gloria Rehm. Ihr Stimmfach ist die lyrische Koloratur mit dramatischer Tendenz (also von Musette oder Adina bis hin zu Dorina oder Zerbinetta). Und sie geht diese Extrempartie mit der ganzen Kunstfertigkeit ihres Stimmfaches an, singt die Noten perlklar, die Intervalle gestochen scharf, beizeiten auch mal mit schönem lyrischem Legato – fast belcantesk, ohne veristisches Schreien. Und das funktioniert hervorragend, man erlebt eine ebenso artifizielle wie ausdrucksvolle Marie, zudem eine mit ganz starker schauspielerischer Präsenz. So verwandelt sich diese junge Sängerin, geboren 1985 in Berlin, die in Köln 2012 vom Opernstudio ins feste Ensemble wechselte und seit 2014 am Staatstheater Wiesbaden engagiert ist, auf ihre Weise eine der schwersten Sopranpartien des Opernrepertoires an. Eine große Leistung!
Auch andere Figuren bleiben im Gedächtnis: Beispielsweise der grelle, stilistisch treffsicher überzeichnete Desportes von Martin Koch; Pavel Daniluk, der die parvenühafte Unbeholfenheit des Vaters Wesener ausdrucksvoll singt und verkörpert. Benjamin Russell zeichnet den Zynismus des Haudy mit schneidender Schärfe; Kai Stiefermann gibt dem Mary brutale Jovialität; Joachim Goltz verkörpert einen sinistren Feldprediger mit markanter Stimme; Eberhard Francesco Lorenz gelingt ein in bizarren Registerwechseln schwadronierender Pirzel; Sharon Kempton gibt eine bemerkenswert profilierte Gräfin de la Roche. Und Celeste Harworth ist eine in allen Registern ungewohnt kraftvolle Charlotte. Holger Falk zeichnet den Stolzius sehr einprägsam – aber vielleicht doch ein bisschen zu sehr als Waschlappen. So wird zwar plausibel, dass Marie ihn ziemlich langweilig findet. Aber wo er die Entschlossenheit für den finalen Doppelmord nebst höchsteigenem Suizid hernimmt, wird nicht greifbar.
Am Ende großer Beifall, aber bei vielen auch eine gewisse Ratlosigkeit. Für beides gibt es Gründe. Man hatte einen effektvollen Theaterabend erlebt. Aber Vasily Barkhatov hat mit viel Aufwand und Spektakel sowohl szenisch wie auch klanglich glatt am Werk vorbei inszeniert. Schade.