Foto: Volker Lösch inszeniert in Essen "Das Prinzip Jago". Im Mittelpunkt der Medien: Bösewicht Nick Walter alias Jago (Stefan Diekmann). © Birgit Hupfeld
Text:Jens Fischer, am 2. Oktober 2016
Was an den Stammtischen besorgter Bürger noch xenophobe Angstlustfantasie ist, wird in Essen Realität. Es herrscht Krieg. Bürgerkrieg. Aus dem ganzen Ruhrpott strömen Geflüchtete auf den Kennedyplatz, um gegen wachsende Ablehnung durch die Bevölkerung und Behörden zu demonstrieren. Sofort formieren sich dagegen neue und alte Rechte – und dagegen natürlich Neu- und Alt-Linke. Eine kreiselnde Erregung schaukelt parallel durch die so genannten sozialen Medien. Es fehlt nur ein Zündfunke, ein kleines gemeines Gerücht – schon ist die große humanistische Vernunft chancenlos und der Volkszorn kocht über.
Nick Walter (Stefan Diekmann) ist ein als TV-Moderator getarnter Höllenhund. Er will es kochen lassen. Und lässt kurzeitig ein deutsches Kind entführen. Per Twitter initiiert er daraufhin ein Zusammendenken nicht zusammengehörender Tatsachen: Kind weg – Geflüchtete da. Sofort schaukeln sich Vorurteile zu einem Kurznachrichten-Shitstorm hoch. Er tobt aus der digitalen in die analoge Welt. Eine Asylunterkunft brennt, Lynchjustiz findet statt. Als Profiteure stehen Vertreter der „Alternative für Essen (AfE) parat. Und die Nachrichtenredaktion eines lokalen Fernsehsenders weiß sich nicht anders zu helfen, als die politischen Rechtsaußen zu Wort kommen zu lassen. Aus dieser Perspektive inszeniert Volker Lösch multimedial die Dynamik des Wütens im Essener Grillotheater. Als Antwort auf die Frage, wie denn die Stimmung derzeit so ist im Lande.
„Der erste theatrale Writers’ Room im deutschsprachigen Raum“ sei kreative Zelle dieser Uraufführung, lässt Lösch wissen. Er meint damit ein Schreibkollektiv wie es für TV-Serien engagiert wird, um möglichst viele Sprechblasendialoge für möglichst endlos mäandernde Handlungen in möglichst kurzer Zeit zu generieren. So haben nun Lösch mit seiner Dramaturgin sowie den Autoren Oliver Schmaering und Ulf Schmidt in monatelanger Klausur im dramaturgischen Holzhammer-Stil „Das Prinzip Jago“ aus Shakespeares „Othello“ extrahiert.
Das aber eher das Prinzip Richard III. ist. Denn dieser teuflisch gerissene Twitterer wird zwar wie Jago bei einer Beförderung übergangen, als die karrieregeile Susanne (Ines Krug als Cassio) statt seiner zum Chef vom Dienst der Nachrichtenredaktion gekürt wird. Aber das ist nicht Auslöser seiner Rachetour. Wie Nick erklärt. Immer mal wieder stoppt er zauberisch die Eskalationsspirale der Aufführung, tritt wie Shakespeares Richard lässig tänzelnd an die Rampe als Conferencier seines schurkischen Treibens und berichtet, frei von Gefühlen zu sein. Zerstören ist das letzte Vergnügen dieses Meisters aus Deutschland, der mediale Manipulationstechniken virtuos beherrscht. Wie ein moderner Goebbels ohne Ideologie.
Löschs These lautet, dass die Medien im alltäglichen Konkurrenzdruck-Stress gar nicht mehr merken, wenn sie für politische Interessen missbraucht werden. Und sich schließlich selbst auf den rechten Weg begeben. Löschs Empörungspegel scheint diesbezüglich sehr hoch. Jedenfalls sorgt er dafür, dass eine Raserei herzlos schriller Schauspielkunst in Essen anhebt. Ob Fernsehmacher oder Politiker, keine Menschen werden psychologisch vorgestellt, keine Konflikte ausgetragen, keine Gefühle reflektiert. Zu erleben sind Hysterie-Puppen im Tonfall des Schreiens. Und statt Chören und Betroffenheitsoriginalen, dem Markenkern des Löschtheaters, gibt es dieses Mal als Authentizitätseffekte nur Video-Einspielungen aus der Realität: voll mit echtem Integrationswillen von Migranten, echter Besorgnis einer Sozialpädagogin, echten Ressentiments echter Essener Wutbürger.
Chefredakteur Ulrich (Thomas Büchel als Othello) kämpft derweil vergeblich um so altmodische journalistische Tugenden wie: nur das zu berichten, für das es zwei voneinander unabhängige, seriöse Quellen gebe. Ein Medienmoralist ist er, der grundsätzlich fragt, was warum eine Nachricht sei. Nur Anja (Jaëla Carlina Probst als Desdemona) unterstützt ihn. Aber nicht uneigennützig. Sie ist Moderatorin in Probezeit und Ulrichs neue Freundin. Ihre Aufklärungsarbeit wider den Fremdenhass verzerrt Lösch aber ebenso zur radikalen Keiforgie wie das Verkünden der Gegenposition. Dazu gesellt sich noch das Machogeschrei des Reporters Ben (Thomas Meczele spielt Rodrigo), für den Berichte über „Tote und Titten“ der Medienweisheit letzter Schluss sind. Ein harter, mit allen Wassern gewaschener Kerl ist er. Der seinem Kumpel Nick-Jago dann den plumpen Taschentuchtrick erspart. Und das geht so: Ben behauptet, die volltrunkene Anja ins Bett zu kriegen und das zu filmen. Die Wette gilt. Ben gewinnt. Nick bekommt ein prima Video zum Eifersuchtskitzeln. Der ahnungslose Ulrich springt darauf an. Auch Kinderpornos schmuggelt man ihm noch auf den Laptop. Ein Buhmann wird gemacht.
Jede 45-minütige „Zapp“-Sendung vermittelt allerdings mehr über Medien als dieser über dreistündige Abend. Lösch zeigt nur eine Farce am Rande der Selbstparodie. In der überreichlich Lügenpresse-Vorwürfe bestätigt werden. Ein irgendwoher per Skype dazugeblendeter Journalist aus der Türkei behauptet final, also an bedeutungsstarker Stelle, geradezu paradigmatisch, unabhängige Berichterstattung sei heutzutage sowieso nicht mehr möglich.
Wenn Lösch das mit dem Abend vermitteln wollte, hätte er Abstand nehmen müssen von der Medienpraxis, die er so hart kritisiert. Aber er arbeitet mit den gleichen Boulevard-Prinzipien, die der schließlich rechtspopulistisch gewendete Lokalsender auf der Bühne als die seinen ausgibt. „Sei schnell. Warte nicht. Zögere nicht. Denk nicht. Berichte!“, wird per Powerpoint-Präsentation den Mitarbeitern verkündet. Lösch inszeniert rasend schnell, zögert nicht mit Behauptungen, wartet nicht auf Argumentationen, lädt nicht zum Nachdenken ein und haut den Zuschauern aktuelle Verweise, Kommentare, Vergleiche, Parolen, Klagen, Polemiken um die Ohren. Kein Hinterfragen, Analysieren, nirgends. Für die Redaktion soll gelten: „Die Welt ist ein Rätsel, such dir Experten. Egal wer das ist! Das kommt einfach fett.“ Löschs Experte ist ein beliebter Intellektueller, der Prolog für „Das Prinzip Jago“ sei nämlich eine Bearbeitung von Walter Benjamins „Der destruktive Charakter“. Aber wie sich dieser wo manifestiert heutzutage, bleibt unklar. Und Nick-Jago eine Kunstbehauptung. Die nur fürs Entflammen des gesellschaftlichen Hallraumes benutzt wird. Und zwar notorisch vordergründig. In diesem Agitpropabend für alle Stammtische gegen rechts.