Foto: Gestrandet in der Wüste aus Weizenkörnern: Holger Falk und Tilo Werner in "Das Floß der Medusa" © Ursuala Kaufmann/Ruhrtriennale 2018
Text:Maike Grabow, am 1. September 2018
Sie gilt als einer der spektakulärsten Skandale der Musikgeschichte: die geplatzte Uraufführung von Hans Werner Henzes und Ernst Schnabels „Das Floß der Medusa“ im Jahr 1968. Anhänger der Studentenbewegung brachten am Dirigentenpult eine rote Fahne an. Der Chor wollte unter dieser nicht singen – und Henze sie nicht abhängen. Eine gewaltbereite Polizeitruppe löste den Protest auf. 50 Jahre später wird das Oratorium nun unter der Regie des ungarischen Film- und Theaterregisseurs Kornél Mundruczó bei der Ruhrtriennale gezeigt und in der Jahrhunderthalle Bochum aufgeführt. Die Emotionen der damaligen Zeit sollen verbunden werden mit dem aktuellen Unrecht, das an den europäischen Außengrenzen geschieht. Nicht alle Ziele werden jedoch an diesem Abend erreicht.
Als die Fregatte „Medusa“ 1816 auf eine Sandbank navigiert wird, ist in den Rettungsboten nicht genügend Platz für die gesamte Besatzung. Die „Vielzuvielen“, bestehend aus 150 Männern, Frauen und Kindern, bleiben auf einem Floß zurück. Dort werden sie gepeinigt von der Hitze, vom Durst, dem Wahnsinn und vom Kampf ums Überleben. Nach 13 Tagen werden nur 15 gerettet, von denen fünf weitere sterben. Diese Geschichte erzählt uns der mythologische Fährmann Charon (Tilo Werner), der die Toten in die Unterwelt bringt. Mit seiner rhythmischen Sprache leitet er die Zuschauenden durch den Abend und die Toten in die Unterwelt. Dort werden sie bereits von La Mort (der Tod) erwartet. Die stimmgewaltige Sopranistin (Marisol Montalvo) lockt die Verdammten sirenenhaft in den Tod und in den versprochenen Frieden. Sie diskutiert mit dem zurückgelassenen Jean-Charles (Holger Falk) über das Leben und den Tod. Der zunächst stimmlich schwache, dann aber immer stärker werdende Bariton lässt die Verzweiflung und den Wahn der Verdammten spürbar werden. Während der Chor der Lebenden (Chor: Sebastian Breuing) in deutscher Sprache auf der linken Bühnenseite hinter den Streichern singt, können sich die Toten auf der rechten Seite hinter den Bläsern nur auf Italienisch verständigen. Sie sorgen dafür, dass das Unrecht, das hier geschehen ist, nicht vergessen wird. Immer mehr Lebende wandern auf die Seite der Toten.
Vor dem Bühnenrand (Bühne: Márton Ágh) sehen wir aufgetürmte Weizenkörner, Pflanzen und Seifenblasen, die zur Oberfläche steigen. Zunächst schwebt über dieser Unterwasserlandschaft ein Floß. Auf diesem Floß steht Charon im kniehohen Wasser. Spielerisch legt er Papierboote auf das Wasser und zerreißt sie, als die Rettungsboote das Floß zurücklassen. Im szenischen Teil des Abends wird mit Wasser und Dürre gespielt: Da bleibt ein zynischer Nachgeschmack. Nachdem das Floß mit den verhungernden Menschen verschwunden ist, türmen sich hier Berge von Weizen in einer trockenen Landschaft. Und ausgerechnet hier übergibt Charon Jean-Charles eine Flasche Wasser. Doch gegen den Durst und den Hunger kann nichts mehr helfen. Die Körner verschwinden und enthüllen das Verborgene: Berge von Skeletten. In diesem Bild treffen sich der Tod, Charon und Jean-Charles. Hier endet die Qual.
Neben den akustischen Reizen wird auch mit der Stille gespielt. Vor Beginn des zweiten Teiles legt das Orchester seine Instrumente nieder und wendet sich mit den anderen Akteuren dem Publikum zu. Sie starren uns anklagend an. Nur der Tod und Jean-Charles wenden ihre Blicke ab. Wird es nun im zweiten Teil um den angekündigten aktuellen europäischen Bezug und die Katastrophen im Mittelmeer gehen? Aber nein: Angedeutet wird das Thema lediglich durch eine Videoprojektion am Ende. Wir sehen Gesichter von Männern, die vom Leben gezeichnet sind. Mit geschlossenen oder verdeckten Augen, aber auch mit offenen Blicken schauen sie uns entgegen. Zwischendurch erscheint das Wort „WIR“. Währenddessen kämpft Jean-Charles mit dem Tod. Das Stück endet, als das letzte Gesicht seine Augen mit den Händen verbirgt.
Es wird schwach kritisiert, dass wir nicht sehen wollen, was vor unseren Augen geschieht. Doch warum werden die Betroffenen nur projiziert? Gehören sie nicht auf die Bühne, wenn doch sie die Überlebenden sind? Warum besteht der Chor nur aus Europäern? Das inszenierte Konzert soll dokumentarisch, episch und realistisch sein, doch gerade der Realismus geht verloren, das Potenzial des Oratoriums wird nicht ausgeschöpft. Ein Abend mit eindrucksvoller musikalischer Leistung und starken szenischen Bildern – aber auch mit verpassten Chancen.