Noch hat er den Kopf oben: Stine Marie Fischer als Holofernes mit dem Chor der Oper Stuttgart

Die Stadt der Frauen

Antonio Vivaldi: Juditha triumphans

Theater:Staatsoper Stuttgart, Premiere:16.01.2022Regie:Silvia CostaMusikalische Leitung:Benjamin Bayl

Die alttestamentarische Geschichte der schönen jüdischen Witwe, die dem Belagerer ihrer Stadt erst den Kopf verdreht und ihm diesen dann zum Wohle ihres Volkes vom Rumpf trennt, hat bis heute bildende Künstler, Autoren und Komponisten zuhauf inspiriert, darunter auch den Komponisten Antonio Vivaldi und seinen Librettisten Iacopo Cassetti. 1716 wurde „Juditha triumphans“ an jenem venezianischen Mädchen-Waisenhaus uraufgeführt, in dem Vivaldi als Musiklehrer wirkte.

Die Tatsache, dass Vivaldi sein einzig erhaltenes Oratorium für eine reine Frauenbesetzung schrieb, ist das Gedanken-Trampolin für die 38-jährige Künstlerin und Regisseurin Silvia Costa, die das Stück jetzt an der Staatsoper Stuttgart inszeniert hat. Ausschließlich weiß gewandete Frauen agieren auf der zunächst in reinem, gleißendem Weiß gehaltenen Bühne. Unter ihnen sind Sopranistinnen und Altistinnen des Stuttgarter Staatsopernchors (schöne Stimmfarben, nur manchmal allzu weit tremolierend). Dazu fünf Solistinnen. Die Altistin Stine Marie Fischer verleiht dem Holofernes Statur, Wärme und Kraft, Gaia Petrone und Lindsey Coppens verkörpern sicher Abra und Ozias, und vor allem die Empathie der ebenso fein wie expressiv singenden Rachael Wilson als Judith und die stupende Virtuosität von Diana Haller als ebenso koloratur- wie ausdruckssprühender Vagaus prägen maßgeblich die Szene. Das von Benjamin Bayl nach anfänglichen Wacklern sicher geleitete Staatsorchester, das mit zahlreichen aparten historischen Klangfarben (von Mandoline, Theorben, Gamben) aufwartet, arbeitet den Sängerinnen wunderbar zu. Die Gegensätze im Stück jedoch sind weg. Assyrer? Juden? Alles ist eins. Aus Aktionen werden Rituale, in denen sich die schematische Anlage der barocken Da-capo-Arien mit ihren kanalisierten Gefühlsexplosionen spiegelt, und die Rezitative verlieren ihre Funktion als Antreiber der Handlung.

Alles ist Bild. Und alles ist Assoziation. Eine Gruppe von Akteuren findet in einer Art Feldlager oder Lazarett zusammen; einzelne Akteure lösen sich, sind Holofernes, Judith, Diener, ein Priester. Schwarze Gewehre werden weiß gefärbt. Später kommt Rot hinzu: Weiße Hemden werden in Farbe getaucht. Eine riesige kopflose Heldenfigur kündigt das Kommende an. Schon vor der Enthauptung liegt ein zweiter Holofernes-Kopf vor dem schlafenden Feldherrn;  der Akt selbst gipfelt unspektakulär darin, dass sich die Täterin diesen Kopf aufsetzt. Ob sie jetzt mächtiger ist als zuvor – ähnlich wie Siegfried, der im Blut des besiegten Drachen badete? Ach, darum geht es hier nicht. Am Ende gehen die Sängerinnen von Judith  und Holofernes mit ihren Begleiterinnen plaudernd aus dem Bild, und Choristinnen putzen die Bühne mit dem Wischmopp. Das Spiel ist aus.

Stark sieht und spürt man Silvia Costas Nähe zu jenem Künstler und Regisseur, der tatsächlich lange Jahre ihr Lehrmeister war: Romeo Castellucci. Dessen Salzburger „Salome“-Inszenierung hat 2018 gezeigt: Regietheater, das eine alte Geschichte in ein zeitgenössisches Gewand kleidet, weil man ihr das Wirken aus eigener Kraft heraus nicht zutraut, war gestern. Heute regieren Bild, Poesie, Fantasie, heute können historisch informierte Aufführungspraxis und Inszenierung wieder kongruent sein, heute vertraut man dem Verstand und den Emotionen eines Publikums, das sich selbst seinen Reim auf das Gezeigte machen soll.

Nicht immer haben Costas Chiffren die Kraft von Castelluccis Visualisierungen. So mag etwa das Bild eines vielfach kreißenden Unterleibs das Gebären als Umkehrung des Mordens zeigen wollen, Werden und Vergehen als ewigen Kreislauf. Es wirkt aber aufgesetzt. Anderes, allzu Assoziatives, gerät beliebig. Und die Einebnung aller Gegensätze im Einheitsweiß hat zur Folge, dass man das Motiv Judiths nicht mehr versteht.  Schöne Ideen hingegen sind das Seil, mit dem sich Judith und Holofernes gegenseitig fesseln, oder das Spiel mit dem Geschlechtergegensatz beim Hissen eines Banners: Die Menschen schuf Gott nach seinem Bild als Mann und als Frau, so das Zitat aus der Schöpfungsgeschichte (auf Lateinisch, der Sprache des Oratoriums); das Banner reißt, Holofernes hält das Wort „männlich“, Judith das Wort „weiblich“ in den Händen, es kreuzen sich fragende Blicke. Und wer ist nun Judith: Täterin oder Opfer? Gut oder böse? Empathische Befreierin ihrer Stadt oder eiskalte Mörderin? Ganz Frau oder eher ein Mann im weiblichen Gewand? Vorhang zu – und viele Fragen offen.

(Wieder am 19., 22. Januar, 11. Februar sowie am 2.,6.,10. und 12. März. Karten: 0711 / 20 20 90)