Foto: "Sissy" bei den Greifenstein-Festspielen © Dirk Rückschloß/BUR Werbeagentur
Text:Roland H. Dippel, am 15. August 2016
Manchmal erstaunt es einen, wie Erfolge entstehen. So bei der diesjährigen Musiktheater-Premiere des Eduard-von-Winterstein-Theaters auf der von diesem seit 1931 bespielten Greifenstein-Felsenbühne. Das Naturensemble im Erzgebirge hat Tücken, ohne Auto kommt man schwer hin. Aber auf den hohen Felsen ist immer etwas geboten. Da posieren Ballettmädchen wie biedermeierliche Waldnymphen, bilden anmutige Gruppierungen in augenzwinkernden Arrangements von Kirsten Hocke. Ein Biertisch mit weißblauer Rauten-Tischdecke kommt weg, dafür ein paar Putten auf die Brüstung: So funktioniert bei Tilo Staudte der Szenenwechsel von Schloss Possenhofen am Starnberger See im Königreich Bayern nach Ischl zu den Habsburger Hoheiten.
Ja, gespielt wird Fritz Kreislers Singspiel „Sissy“, ein En-Suite-Erfolg im Theater an der Wien ab Weihnachten 1932 und in den letzten Jahren fast verschwunden. „Die Operette vor dem Film“ – so promotet das Winterstein-Theater jenes ausgetrickst mit den Genres Komödie, Salonstück und sentimentaler Operette kokettierende Opus von Ernst und Hubert Marischka, Quelle auch für die Sissi-Filme mit Romy Schneider. Die total offene Akustik eignet sich, streng genommen, für Musiktheater nur bedingt. Also ist es konsequent, wenn man Soli und Chor mit einer vorab produzierten Aufnahme des Orchesters zusammenführt. Dieter Klug hat oft bewiesen, was für ein exzellenter und genrekundiger Operettendirigent er ist. Deshalb muss er diesen Ort, einen Kapellmeister-Alptraum sondergleichen, nicht fürchten. Er gibt dem Ensemble Sicherheit auch bei großen Abständen zur Hauptspielfläche, neben der links davor und rechts dahinter Nebenbauten die breite Spielfläche begrenzen.
Ein Singspiel für derart grobe Aufführungsbedingungen wie an den Greifensteinen… ist das legitim? Einerseits: Nein, aufgrund jener musikalisch filigranen Szenen, in die Kreisler seine berühmten Violin-Piècen eingoss. Andererseits: Ja und unbedingt, weil bereits die Schauspielerin Paula Wessely in der Uraufführung mit dem Singen ihre Mühe hatte und deshalb Kolleginnen von der Bühnenseite alle jene (zahlreichen) Stellen übernahmen, wo die Wessely musikalisch zu straucheln drohte. Urs Alexander Schleiff hat dieses melodienreiche Baiser mit kundiger Hand szenisch aufgeschäumt, angerichtet und garniert. An den Greifensteinen ist alles eitel Idylle, wenn Sissy in einem kleinen Segelboot erscheint und Herzog Max unter Tadel seiner etikettenstrengen Gattin Luise in den Starnberger See springt. Die Texte des Singspiels – mit Ironie und Parodie ist deren Gartenlauben- und Poesiealbum-Flair sicher nicht beizukommen – erfahren visuelle Entsprechung in den pastellenen Damenroben, schneidigen Uniformen und erdfarbenen Trachten von Erika Lust. Mit diesen Kostümsätzen hat das Winterstein-Theater gleich Material zum ganzen Nestroy, der sich in diesem Rahmen mindestens genauso prächtig machen würde.
Wer die Sissy-Filme kennt und heimlich vielleicht sogar liebt, erlebt keine Überraschung: Therese Fauser – verblüffend ähnlich den Jugendporträts der psychisch angeschlagenen Monarchin – hat gleich zur ersten Begegnung schöne Augen für den Kaiser, als der sie beim verbotenen Rosenpfücken stellt. Christian Härtig ist ein großer Sympathiebolzen als junger Franz-Joseph, dem man nur zu sehr den Sieg gegen seine dominante Mutter Sophie und deren Cousine Herzogin Luise von Bayern wünscht: Gisa Kümmerling und Bettina Corthy-Hildebrandt jonglieren mit Dünkel und Familienstolz. Die bekannten Begebenheiten aus dem Adelsjournal erweisen sich einmal mehr als Teil des kollektiven Kulturgedächtnisses.
Leander de Marels Pointenreservoir scheint unerschöpflich, wenn er als Herzog Max in Bayern gegen die Politstrategien seiner Frau und der Erzherzogin rebelliert. Nur weil das alles gar so heiter ist, kommt da kein Verdacht von unkorrekter Genderschelte auf. De Marel reißt die Lacher so auf seine Seite, dass für seine Spielerkollegen fast nichts bleibt. Da hält allenfalls Jason-Nandor Tomory mit, wenn er als Oberst von Kempen in Bierseligkeit mit Rülpsern eine klitzekleine Privatrevolution gegen die Erzherzogin wagt. Bettina Grothkopf rauscht auf als Balletttänzerin Ilona Varady, die die Verwirrung um die falsche Rosenpflückerin noch auf die Spitze treibt. Michael Junge ist der immer wieder gern von den Durchlauchten geschurigelte Zeremonienmeister. Elegant, verdattert und ein bisschen begriffsstutzig.
Das wichtigste also hat das Winterstein-Theater dabei: Ein Ensemble, das die von Urs Alexander Schleiff mit anderweitig bekannten Witzchen („Margarine/Migräne“…) angereicherte Melange aus Sentiment und Nostalgie zügig durchspielt und manchmal die bei den räumlichen Dimensionen unerlässlichen Mimenpranken zeigt. Den Sonderbonus erhält hier wie schon als „Obersteiger“ Frank Unger, der beste Figur macht und als Prinz Thurn und Taxis Elisabeths Schwester Helene doch bekommt, weil die den Kaiser partout nicht will. Madelaine Vogt ist mehr „süßes Mädl“ als selbstbewusste Komtess.
Bei der Anreise fällt auf, dass Plakate im Großraum fehlen. Mehr Promotion würde den Zuspruch gewiss noch vergrößern, weil das Naturtheater Greifensteine (die Schreibweise ist sogar in der Kernregion nicht einheitlich) ein weithin aussterbendes Alleinstellungsmerkmal besitzt: Ursprünglichkeit und naturbelassene Selbstverständlichkeit ohne Optimierungsdesigns. Da fehlt eigentlich nur noch der mitteldeutsche Regionalbezug – und den gibt es von Léhars „Friederike“ bis zu ortsspezifisch passenden Schauerdramen von Freibergs goethezeitlichem Horrorautor Christian Heinrich Spieß in Fülle. Heraus damit an den Greifensteinen!