Foto: "Die Trabanten" in der lauten Inszenierung von Armin Petras am Deutschen Theater in Berlin © Arno Declair
Text:Barbara Behrendt, am 12. November 2018
Im All kreist ein Trabant in immer gleicher Umlaufbahn um einen Himmelskörper, ohne ihm je nahe zu kommen. Clemens Meyers Trabanten dagegen stehen am Rande halb vergessener Städte im Osten Deutschlands – riesige Hochhäuser, die erst im Dunkeln aufglimmen und ihre Augen müde öffnen. Fenster für Fenster blinken hier wie Sterne durch die Nacht – in jedem Lichtschein ein unbekanntes Leben.
Meyer hat sich in diese Leben geschlichen und den Gedankenströmen der Menschen gelauscht. Ihren Alltag nachempfunden, ihren verlorenen Träumen nachgespürt. Dem Imbissbudenbesitzer, der nachts im Hochhausflur Zigaretten mit der Freundin seines Nachbarn teilt und mit ihr die zu leuchten beginnenden Plattenbau-Trabanten bewundert wie einen Sonnenuntergang. Dem Security-Mann, der bei seinem nächtlichen Rundgang ums Flüchtlingsheim die junge Frau wiederzuerkennen glaubt, mit der er hier vor Jahrzehnten Küsse getauscht hat – natürlich, sie kann es nicht sein, doch seine Erinnerungssplitter zersetzen die Gegenwart und nehmen dem Hier und Jetzt alle Konturen. So schreibt Meyer immerzu – mäandernd zwischen Heute und Gestern und Damals und noch viel früher. Ein rhythmisches, repetitives Umkreisen ihres Einsamkeitszentrums. Denn einsam sind diese Menschen alle.
Meyer porträtiert keine „kleinen Leute“. Diese Friseurinnen, Gleisflicker, Kohlearbeiter, Maurer leben, lieben und sehnen sich wie wir alle. Ihre ausgesucht gewöhnlichen, teils aufstiegschancenlosen Biographien vergrößern wie hinterm Teleskop lediglich den Blick auf unser unvermeidliches Vergessenwerden. Meyer schreibt das wie ein Trabant auf der Umlaufbahn: ruhig dahintreibend, geduldig, von Exzessen keine Spur. So gleichbleibend traurig, so schwermütig und melancholisch, dass es kaum zu ertragen ist.
„Die stillen Trabanten“ könnte fast ein Text von Fritz Kater sein – dem Pseudonym, unter dem der Regisseur Armin Petras Dramen schreibt. Auch seine Stücke sind durchdrungen von Melancholie, Mitgefühl, Mondsucht – ohne überheblich Mitleid für diese Tragöden des Alltags zu erheischen. Die verlorenen Träume der Menschen im untergegangenen Osten waren stets sein Herzensthema. Petras nennt Meyer den „ostdeutschen Hemingway“ und „einen der größten ostdeutschen Schriftsteller überhaupt“. 2008 hat er dessen Erfolgsroman „Als wir träumten“ in Leipzig uraufgeführt, nun die Bühnenadaption der „stillen Trabanten“ am Deutschen Theater in Berlin. Fünf der zwölf Erzählungen hat er sich herausgegriffen, darunter jene mit dem Imbissbudenbesitzer und dem Security-Mann, und sie (aus unersichtlichen Gründen) mit einer weiteren Geschichte aus Meyers Kurzgeschichtenband „Die Nacht, die Lichter“ ergänzt.
Geradezu paradox ist dann, wie wenig von der Einfühlung des Autors Kater der Regisseur Petras auf die Bühne bringt. In gut drei Stunden Theater weicht er der Realität der Figuren unentwegt aus – indem er sie ins Grelle, Laute, Gewalttätige treibt, indem er in den Slapstick driftet, indem er sie mit den rührigen Songs des Live-Musikers Miles Perkin ins Übersentimentale führt.
Was bei Meyer im Dunkeln bleibt, zerrt Petras ins Licht, ins Überdeutliche. Die Frau von der Bahnreinigung und die Friseurin, die sich in einer Bahnhofskneipe kennenlernen und deren scheue Annäherung in einem nächtlichen Haarschnitt kulminiert, lässt Petras sich küssen, begrapschen, halb ausziehen. Der junge Mann, der von einer alten Dame für deren Enkel gehalten wird und schließlich in die Uniform dieses im Nahost-Krieg gefallenen Soldaten schlüpft, bevor er wortlos geht, drückt der Großmutter hier am Ende das Kissen aufs Gesicht. Doch die Leben, von denen Meyer erzählt, haben keine solchen Zuspitzungen – das ist es ja gerade.
Im für Olaf Altmann sehr zurückhaltenden Bühnenbild drehen sich fünf verschiebbare Holzwände, am Rand sitzt der Musiker Miles Perkin an Klavier, Gitarre, Cello. Fehlende Requisiten werden von den Darstellern durch eine Art Pantomimenspiel ersetzt. Anja Schneider, Katrin Wichmann und Maike Knirsch überzeichnen ihre Figuren zumeist, parodieren sie fast. Auch Alexander Khuon erschwäbelt sich in einer Slapstick-Nummer die Lacher, Božidar Kocevski springt als lebendiges Fernsehprogramm von Soap Opera zu Krimi zu Sport-Interview zu Tier-Sendung – völlig sinnfrei, aber stets ein billiger Lachgarant. Nur Peter Kurth darf mitunter echte, abgewetzte, beschädigte Menschen andeuten.
Die Absicht ist verstehbar: Petras möchte den abgrundtiefen Geschichten mit Leichtigkeit begegnen – dass gerade in der schwersten Trauer oft große Komik liegt, lehrten ja schon Beckett und Tschechow. Und wie auch soll man diese Figuren auf die Bühne stellen, ohne in Elends-Voyeurismus oder eine Milieu-Studie abzugleiten? Doch Petras inszeniert nicht leicht, sondern brachial, mit Hang zur Karikatur. Jeder wahrhaftigen Menschlichkeit weicht er derart panisch aus, dass man sich fragt, wovor er eigentlich davonläuft. Man kennt das allzu gut aus seiner Zeit als regieführender Intendant am Maxim Gorki Theater – vom größeren Interesse für „den Spieler, den Menschen auf der Bühne“, das er sich gerade in einem Interview zuschrieb, nur Spurenelemente. Clemens Meyers genauer, empathischer Blick für das ganz normale Elend der Menschen ist da deutlich mutiger.