Foto: Saori Ando und Lorenzo Angelini in "Short Play" am Nationaltheater Mannheim © Christian Kleiner
Text:Björn Hayer, am 3. Juli 2022
Zeit erleben, Zeit ertragen, Zeit nutzen – von dieser Trias erzählt der Tanzabend „Speed“ am Nationaltheater Mannheim auf fulminante Weise. Gleich zwei Inszenierungen führen uns in die großen und kleinen Zeitspannen ein. Insbesondere letztere, bezogen auf das kurze, menschliche Leben, birgt mitunter so groteske Momente: Während ein Duo um seine eigene Mitte ringt, ziehen im Hintergrund fast nackte Männer mit Aktenkoffern vor ihrem Geschlecht und Stöckelschuhen sowie ein Mensch in Pudeloutfit vorüber. Dass Stephan Thoss‘ Uraufführung „Short Play“ jedoch nicht nur mit skurrilen, apart-rätselhaften Bildern aufwartet, sondern gleichsam auch zarte Szenen (mitunter zu der wunderbar sphärischen Musik Nils Frahms) findet, lässt den ersten Teil des Abends zu einem Wechselbad der Gefühle werden.
In Zweiertänzen ergehen sich die Performerinnen und Performer (u.a. Saori Ando, Dora Stepusin und Emma Kate Tilson) zu Klavierstücken im Suchen und Finden eines gemeinsamen körperlichen Ausdrucks, in Gruppenformationen loten sie hingegen Sinn und Fluch der synchronen Bewegung aus – ganz so, als könnte ein Rhythmus in der Zeit nur gemeinsam gefunden werden. Dafür sprechen im Übrigen auch die vom Choreografen selbst entworfenen Kostüme. Trägt etwa ein Mann ein pinkfarbenes Kleid und eine Frau eine Perücke in derselben Farbe, so ergänzen sich beide, die vielleicht ein Liebespaar andeuten, jeweils um ein fehlendes Element. Nicht nur die gemeinsame Dynamik der Körper basiert, so vermutlich die Aussage, auf Abhängigkeit. Es ist wiederum auch die Zeit, die nie nur für sich existiert. Sie fordert stets Raum, Wahrnehmung und Tat ein. Was die Darbietung aus einzelnen, nur lose narrativ miteinander verbundenen Szenen dabei eint, ist eine ausbleibende Reflexion über die Vergänglichkeit. Im Gegenteil: Wir haben es mit einer dionysischen Feier des Lebens zu tun, die immer wieder im hellsten Licht und reflektiert in golden anmutenden Ventilatoren an der hinteren Bühnenwand erstrahlt.
Chaos und Ruhepunkte
Nicht ganz so heiter beginnt der zweite Teil: Adonis Foniadakis „Kosmos“. Vor düsterer Kulisse und unter fahlem Licht stürzen sich die blau gekleideten und größtenteils schon aus dem ersten Teil der Inszenierung bekannten Tänzerinnen und Tänzer auf die Bühne, anfangs mit harten Gesten und Klatschen. Dass sich hierbei eine geradezu bedrohliche Atmosphäre einstellt, ist auch der wuchtigen Musik Julien Tarrides geschuldet, dessen hämmernde Perkussion markerschütternd wirkt. Getrieben von dem furiosen Takt vollzieht sich auf der Bühne eine beinah exorzistische Selbstausbeutung. Man gerät aneinander, löst sich voneinander, strebt nach Nähe und wählt erneut die Distanz.
Die spekulative Erzählung dahinter: Der titelgebende Raum entsteht nur aus dem Chaos heraus, aus den Kollisionen von Atomen bis hin zu Tieren und Menschen, die ihrem Begehren nachgeben. Und so überrascht es auch kaum, dass nach einer enormen Beschleunigung mit wenigen, hart gesetzten Unterbrechungen ein Bild der Liebe den Abend abschließt. Nachdem die Darstellerinnen und Darsteller zuletzt golden in der Finsternis schimmern und damit nur selten gesehenes Bild der Schönheit schaffen, bleibt mit den letzten Pianoklängen nur noch die Silhouette eines sich haltenden Duos übrig. Die große Zeitspanne, die von der Schöpfung der Welt berichtet. Sie gelangt zu einem faszinierenden Ruhepunkt: in der Vereinigung der Gegensätze, die sich jeder Vermessung in Minuten, Stunden, Jahren und Jahrhunderten entzieht.