Foto: Szene aus "Eine Familie" in Bremen © Jörg Landsberg
Text:Michael Laages, am 27. Februar 2016
Theater ist das wie ein Schlag in die Magengrube. An Emotionen rührt es, die besser tief vergraben bleiben wollen im Vergessen. Aber wo immer sich ein Ensemble zusammenstellen lässt, das sich versenken kann in „August. Osage County“, mit Anna Opels Übersetzung ganz sachlich „Eine Familie“ übertitelt, und wo sich die passende Regie-Energie dafür findet, ist das Stück das amerikanischen Dramatikers Tracy Letts fast ein Garant für den großen Wurf. Burkhard C. Kosminski war Ende Oktober 2008 in Mannheim der erste in der Reihe der Familien-Beschwörer, Markus Dietz in Bochum, Michael Heicks in Bielefeld und viele andere folgten; jetzt gerade haben Sascha Hawemann in Dortmund und Alize Zandwijk in Bremen „Eine Familie“ inszeniert. Und obwohl der Tiefschlag absolut absehbar ist, trifft er jedes Mal wie neu. Mehr Theater als mit diesem Stück ist kaum möglich.
Alize Zandwijk hat seit zehn Jahren das Ro-Theater in Rotterdam geleitet, sie hat auch eine sichere Hand für Stücke von Dea Loher; vor Jahresfrist kreierte sie das „Gaunerstück“ in Berlin, in Bremen fand sie schon einen Weg für „Das Leben auf der Praca Roosevelt“, Lohers Sao-Paulo-Stück. Immer ist Zandwijks Zugriff auch musikalisch grundiert – „Eine Familie“ lebt auch vom Soundtrack mit Maartje Teussink, einer veritablen Singer-Songwriter-Größe aus den Niederlanden; sie kann ganz fein gewebte Klang-Teppiche legen, mit Geigenbogen auf Gitarrensaiten etwa, aber auch mit starken Songs ausbrechen ins Minuten-Konzert. Und mit der Musik verpasst sie potentiellen Vergewaltigern sogar blutige Nasen – die Sängerin übernimmt ja auch den Darsteller-Part der indianischen Haushilfe, die der zum Sterben bereite Schriftsteller, Dozent und T.S.-Eliot-Verehrer Beverly Weston kurz vor dem Abschied einstellt, damit sich nach Mister Westons Tod irgendjemand kümmern wird um die schwerst tablettenkranke Gattin; und in der Indianer-Rolle verhindert die Musikerin sexuelle Aktivitäten zwischen dem jüngsten und dem dümmsten Trauer-Gast unter all jenen, die zu Westons Beerdigung anreisen.
Das ist ja der Kern des Stücks – Weston hat sich umgebracht (was – wie wir als gröbste Schlusspointe erfahren – von der Ehefrau hätte verhindert werden können), und die drei Töchter samt Anhang sowie die Schwiegerfamilie der Schwester der Witwe erleben ein Inferno aus Erinnerung – Violet Weston legt alle offenen Rechnungen auf den Tisch, verletzt und erniedrigt jeden und jede, kennt alle geheimen Zerwürfnisse, weiß zum Schluss sogar um den unehelichen Bruder der drei Schwestern, den der tote Gatte mit der Schwägerin zeugte. Das Stück wird zur offenen Feldschlacht der „Hollow-Men“, der Vogelscheuchen aus Eliots mehrfach zitiertem Gedicht. Das stiftete bekanntlich Präsident Reagan letzte Worte zum Untergang der Sowjetunion – „not with a bang, but with a whimper“.
So endet die Welt; nicht mit dem großem Knall, sondern mit leisem Wimmern. So endet auch die Welt dieser Familie; Witwe Violet, die sich als Stärkste von allen erwiesen hat (und von Tochter Barbara sogar die schrecklichen Pillen zurück bekommt), wimmert nach den Kindern – um sich schließlich auf den Schoß von Sängerin Teussink zu flüchten, die „Gracias a la vida“ von Mercedes Sosa anstimmt. Vielen Dank, liebes Leben – so zynisch kann nur dieses Stück enden. Keine Geschichte in dieser Familie ist heil geblieben; keine Zukunft mehr, nirgends.
Alize Zandwijk zeigt grandiose Einzelporträts, etwa die aller Töchter: Nadine Geyersbach, die stets mit schwer ausgreifenden Schritten wie ein Reptil die Bühne durchquert; Annemaaike Bakker als Riesin auf mörderisch hohen Plateau-Sohlen (sie kam aus Holland fest nach Bremen und erhielt hier schon den Kurt-Hübner-Preis); schließlich Fania Sorel – Bremen kann sich glücklich schätzen, wenn diese extrem intensive Schauspielerin in der nächsten Saison fest ins Ensemble kommt, mit Zandwijk als Chef-Regisseurin des Hauses. Aber auch die Männer sind stark besetzt: Alexander Swoboda (das ist der Schwestern-Lover, der sich die blutige Nase holt, weil er sich nach gemeinsamem Kiffen an der Nichte in spe vergreifen will), Johannes Kühn und Justus Ritter, der Sohn aus der Schwieger-Familie (Susanne Schrader und Martin Baum) und geheime Bruder der drei Schwestern. Sogar für Guido Gallmann, der als Dichter Beverly nach der ersten Szene aus dem Stück verschwindet, hat Zandwijk einen klugen Gedanken – als Poliztist tritt er auf, triefend vom See, in dem der Dichter ersoff, und dann noch als gutes, böses Gespenst hinter der Witwe, als die die Totenfeier endgültig sprengt …
Im Auge des Hurrikans aber steht Verena Reichhardt – und lebt sehr schmerzhaft und sehr stark das mörderische Muttertier – diese Rolle ist eine Art Mikrokosmos für alle Handwerklichkeit und alles Talent der Schauspielerei.
Nichts weniger als ein ganz großer Theaterabend ist da entstanden im schiefen blauen Bühnenhaus von Thomas Rupert, in dem oben schon der Riss klafft, der bald alles zerstören wird. Zandwijk gibt ein Versprechen mehr für die nächsten Jahre in Bremen … und vielleicht verirrt sich ja doch mal ein Juror fürs „Theatertreffen“ nach Bremen und in ein „wellmade“-Stück wie dieses.