Foto: Ensemble des Theaters Münster in "Leben des Orest" © Sandra Then
Text:Joachim Lange, am 2. Oktober 2022
Ernst Krenek (1900-1991) gehört heute zu den Komponisten im Schatten, den die Zeitläufte seines Jahrhunderts geworfen haben. Der Grund dafür sind ganz generell die politischen Verwerfungen seines Jahrhunderts. Und aufs gängige Repertoire bezogen, überschattet Richard Strauss. Beide Umstände treffen nicht nur Krenek. Es braucht also schon ein gewisses Quantum an (Wieder-)Entdeckerlust, um eine andere Krenek-Oper als „Jonny spielt auf“ auf den Bühnenprüfstand zu stellen. Mit seiner 1927 in Leipzig uraufgeführten Jazz-Oper wurde der Franz-Schreker-Schüler populär, ja eine Ikone der Moderne. „Jonny“ war und blieb nicht nur sein größter Erfolg, er brachte ihm zugleich die tiefe Verachtung, ja den Hass der Nazis ein. Für die war er ein „Kulturbolschewist“ und wurde nach 1933 als „entartet“ verfemt. Allein schon deshalb war es befremdlich, dass ausgerechnet eine die Historie aufgreifende Münchner Inszenierung dieser Oper im Frühjahr ins Kreuzfeuer einer (vermeintlichen) Rassismuskritik von Antiblackfacing-Aktivisten geriet und die Intendanz vor deren zensierenden Forderungen einknickte!
Kreneks Absicht, seine großformatige Zwölfton-Oper „Karl V.“ in Wien uraufzuführen, ließ sich 1934 zwar nicht mehr realisieren, allerdings gelang ihm das noch 1938 in Prag. Dorthin war er zunächst emigriert, um dann ab 1938 bis zu seinem Tod in den USA, deren Staatsbürger er 1945 wurde, zu leben.
Wie „Jonny spielt auf“ war auch „Das Leben des Orest“ 1930 in Leipzig ein Publikumserfolg. Es gehört zu den bemerkenswerten Fußnoten der (im Ganzen eher dürftigen und 1961 verebbenden) Aufführungsgeschichte der Oper in der Nachkriegszeit, dass es (so die Dramaturgin im Programmheft) bei einer der letzten Aufführungen in Darmstadt zu einem Skandal kam, weil Studierende der Darmstädter Ferienkurse die Vorstellung demonstrativ störten, da sie die Oper als nicht mehr zeitgemäßes, sondern überholtes „Zeitdokument der 20er-Jahre“ befanden.
Nun ist aus dem „Leben des Orest“, das aktuell am Theater Münster gespielt wird, tatsächlich weniger der atonale Neutöner herauszuhören, als ein Komponist, der bewusst für ein Publikum schreibt, das sich auch gut unterhalten soll. Wenngleich man die Intoleranz von Protagonisten einer avancierten Nachkriegsmoderne heute nur noch als merkwürdige Entgleisung zur Kenntnis nehmen kann, lässt sich nun in Münster bis zur Pause zumindest nachvollziehen, was die Klangrevoluzzer gemeint haben könnten. Der Sound im ersten Teil klingt recht schlicht. Die Musik folgt einem Parlando-Stil, bei dem das Wort dominiert, was bei der exemplarisch komplexen Familiengeschichte der Atriden mit Orest als Helden im Mittelpunkt kein Nachteil ist.
Die ganze Tragödie der Atriden
Krenek hat das Libretto für die acht Bilder seines Fünfakters selbst aus den antiken literarischen Vorlagen der „Orestie“ von Aischylos den beiden „Iphigenien“ und der „Elektra“ von Euripides zusammengestellt. Was Komponisten von Gluck über Strauss bis Trojahn sozusagen episodenweise veropert haben, gibt es bei Krenek als eine eigene Version im Ganzen. Wirklich verloren gehen kann der Zuschauer dabei jedenfalls nicht.
Wir erleben mit, wie Agamemnon (kriegslüstern: Brad Cooper) sich erst von Aegisth (mit schmieriger Eloquenz: Garrie Davislim) einreden lässt, seinen Nachkommen zu opfern, damit die Winde für die Kriegsexkursion nach Troja günstig stehen, wie Klytämnestra (Wioletta Hebrowska) ihren Sohn davor in Sicherheit bringen lässt, der wutentbrannte Agamemnon sich stattdessen Iphigenie (Katharina Sahmland) schnappt, die aber wie durch ein Wunder nicht getötet wird, sondern verschwindet.
Wir erfahren dann, dass Iphigenie bei König Thoas (Ki Hoon Yoo) im Nordland eine so bevorzugte Immigrantin ist, dass dessen Tochter Thamar (mit eindrucksvoller Präsenz: Robyn Allegra Parton) so eifersüchtig ist, dass sie dauernd mit dem Messer spielt, das sie am liebsten in den Leib der Konkurrentin um die Liebe des Vaters rammen würde. Und wir erfahren, wie es Orest (in wechselnden Charaktermasken durchweg fabelhaft: Johan Hyunbong Choi) auf seiner unfreiwilligen Flucht ergeht und wie seine Amme Anastasia (Helena Köhne) der Athene eine weiße Kugel opfert, damit Orest im Getümmel einer Jahrmarktsschlägerei nicht untergeht.
Nach einem Zeitsprung von zehn Jahren werden wir Zeugen, wie Klytämnestra und der zwischenzeitlich zu ihrem offiziellen Liebhaber avancierte Aegisth den aus Troja heimkehrenden Agamemnon in dem Falle mit Gift aus dem Weg räumen und diesen Mord dessen Tochter Elektra (mit dramatischem Furor: Margarita Vilsone) in die Schuhe schieben und wie sich Orest zu gleichen Zeit irgendwo in Griechenland entschließt, nach Hause zurückzukehren.
Klug eingefädeltes Crescendo
Der erste Teil vor der Pause endet also da, wo die Handlung der „Elektra“ von Strauss und Hofmannsthal einsetzt. (In Münster, steht dieser Klassiker unter den Opern-Schockern in einer Inszenierung von Paul-Georg Dittrich, spielplandramaturgisch folgerichtig im Dezember auf dem Plan!)
Die bis hierher auch szenisch eher brave Nacherzählung in der sparsam nüchternen Ausstattung von Monika Biegler, die nur durch die Videos von Aron Kitzig mit geographisch Atmosphärischem aufgeladen wird, und vielleicht auch das bis hierher eher etwas eindimensional wirkende Parlandoschrittmaß der Musik ließ ein paar wenige Zuschauer in Münster aufgeben. Allerdings haben die das beste versäumt. Denn nach der Pause legen sowohl Krenek und sein musikalischer Sachwalter am Pult des Sinfonieorchesters Münster, GMD Golo Berg, als auch Regisseurin Magdalena Fuchsberger und das durchweg fabelhafte Protagonisten-Ensemble deutlich zu. Alle zusammen sorgen dafür, dass sich der Anflug von Verständnis für die Darmstädter Proteste von ehedem ins Nichts verflüchtigt.
Inhaltlich beginnt der zweite Teil des Abends also da, wo der populäre Strauss-Einakter beginnt: mit der verzweifelten, auf Rache sinnenden Elektra. Wenn die in einem Käfig Gefangene und als Vatermörderin neben dem aufgebahrten Agamemnon zur Schau gestellte den Namen ihres Vaters das erste Mal herausschreit, klingt das wie ein entferntes Echo auf die berühmten Rufe bei Strauss. Den allemal ziemlich berührenden Gefühlscoup des Wiedererkennens der über Jahre getrennten Geschwister, gibt es bei Krenek sogar gleich zweimal. Denn hier findet Orest nicht nur seine Schwester Elektra wieder, bevor er in aller Öffentlichkeit Aegisth und seine Mutter umbringt. Die schafft es noch, ihn zu verfluchen und so für den düsteren Fortgang seiner erneuten Flucht zu sorgen, während Elektra der Wut der Massen zum Opfer fällt. Interessant ist, dass die keinen König aus der Familie eines Herrschers wollen, der bereit war, seine Kinder für den Krieg zu opfern. Ein Volk mit Gedächtnis – das gibts auch nicht oft auf der Opernbühne (Den Chor hat Anton Tremmel bestens einstudiert!).
Orest jedenfalls wird vom Fluch der Mutter zur Ruhelosigkeit in das Reich von König Thoas getrieben, wo er sich im Banne von Thamar fast dazu verleiten lässt, die von ihr gehasste Fremde zu ermorden, um so für seinen Muttermord zu büßen. Der Logik muss man jetzt nicht unbedingt folgen. Es kommt ja auch nicht dazu, denn Iphigenie sorgt mit der Fragerei nach dem Schicksal ihrer Familie dafür, dass uns Krenek noch eine zweite – ebenso ergreifende – Ich-bin-es-Szene beschert!
Gegen die dann einsetzende straffe Gangart in Richtung eines zwischen Thoas und Iphigenie, Thamar und Orest in trauter abgeklärter Runde ausdiskutierten Happy Ends, setzt die Regie ihrerseits auf den guten, alten Verfremdungseffekt. Man führt vor, was erzählt wird, tritt sogar aus dem immer eine gewisse Distanz wahrenden Spiel heraus und mit der Partitur in der Hand an die Rampe. Das wiederum im Schulterschluss mit den witzig ironischen Revueeinlagen mit denen Krenek selbst seine musikalische Musikmelange anreichert.
Für das abschließende Gerichtsverfahren, bei dem Orest mit einer Stimme Mehrheit freigesprochen wird, betritt der Richter (Gregor Dalal) über den Zuschauerraum die Bühne. Da die eine weiße Urteilskugel von einem Mädchen, das immer wieder am Rand der Bühne saß und in einem großen Buch blätterte, abgegeben wird, deutet das Bühnenpersonal dies als göttlichen Schiedsspruch. Sagen sie jedenfalls.
Der Produktion gelingt damit ein Finale bei dem ein beindruckendes musikalisches und ein klug eingefädeltes szenisches Crescendo zusammentreffen!