Foto: „The Turn of the Screw“ an der Brüsseler Oper La Monnaie / De Munt © Bernd Uhlig
Text:Joachim Lange, am 30. April 2021
Der Titel ist einigermaßen seltsam: „The Turn of the Screw“ bedeutet eigentlich ‚Die Drehung der Schraube‘. Ein etwas umständlicher Titel auf der Metaebene, der für viele Stücke gelten könnte. Denn eine Spannung, die sich auf der Bühne und im Graben aufbaut und steigert, sollte immer drin sein, wenn sich der Vorhang hebt. Andererseits ist der gelegentlich als deutsche Übersetzung ins Spiel gebrachte Titel ‚Die sündigen Engel‘ auch problematisch. Da sowieso muttersprachliche Aufführungen die Regel sind, ist der englische Originaltitel die beste Lösung. Außerdem hat er sich seit der Uraufführung der Kammeroper in Venedig 1954 fest eingebürgert. Spannend und merkwürdig geht es zu in dieser Geschichte, die Britten mit Hilfe von Myfanwy Piper aus einer Novelle von Henry James aus dem Jahre 1898 zu einem Libretto gemacht hat.
Auf den ersten Blick ist es eine Geistergeschichte, auf den zweiten ein Psychokrimi in kammermusikalischem Format. Schon deshalb also wie für Andrea Breth gemacht! Die deutsche Regieikone bringt im Sprechtheater die Stücke, die sie sich vornimmt, auf einen Punkt, der Wiedererkennbarkeit und Scharfblick zusammenbringt. Sie macht das seit Jahren auch im Musiktheater so.
In Brittens Zweiakter wird eine Gouvernante zur Betreuung des Knaben Miles und des Mädchens Flora auf den einsamen englischen Landsitz Bly beordert. Dass es eigentlich ein Himmelfahrtskommando ist, ahnt sie bald nach ihrer Ankunft, bei der ihr die Haushälterin Mrs. Grose freundlich entgegentritt und bald zur Vertrauten und Verbündeten wird. Denn im viktorianischen Landsitz sind dunkle Mächte am Werk. Das Geisterpaar Miss Jessel und der teuflische Peter Quint scheint nach den Kindern zu greifen. Eigentlich haben sie (vor allem er) sich schon an den Kindern (vor allem wohl an Miles) vergriffen. Britten hat nicht nur hier unterschwellig Brodelndes erstaunlich hellsichtig verhandelt und einer Gesellschaft untergejubelt, die allemal mehr vom Ver- als vom Enthüllen hielt und sich auf ihren viktorianischen Puritanismus noch etwas einbildete.
Bei Breth, Raimund Orfeo Voigt (Bühne) und Carla Teti (Kostüme) geistern die Gespenster der Vergangenheit so gegenwärtig durch die Szene, dass nicht nur die Kinder unwillkürlich in Deckung gehen. Andere Erscheinungen wie die Männer in Mantel, mit Hut und mit Zeitungen vor der Nase an Caféhaustischen erinnern an eine surreale Magritte-Personage. Sie entspringen offensichtlich tatsächlich nur der Fantasie der Gouvernante und kreisen um ihren geheimnisvollen Auftraggeber. Der Vormund der beiden Kinder, der freilich weder mit denen, noch mit dem Personal, das er zu deren Betreuung bezahlt, etwas zu tun haben will. Seltsames England. Bei Britten bleibt das alles in der Schwebe und lässt damit verschiedenen Deutungen Raum. Für das Trauma eines Missbrauchs, den die Kinder zu verarbeiten versuchen. Oder auch für die verquere Triebsublimierung einer unerfüllten Frau im viktorianischen England. Oder von allem etwas. Dass die Ästhetik bei Andrea Breth oft von Grautönen beherrscht ist, wird auch hier zum Vorzug. Klarheit durch Unschärfe sozusagen.
Hier ist die (gehoben luxuriöse) Landhauswelt der Kinder, so wie wir sie durch die Augen der Gouvernante zu sehen bekommen, aus den Fugen. Der Konzertflügel wirkt ohne Beine wie ein abgestürzter Vogel. Die Schränke sind übergroß, die Menschen dadurch aber vor allem klein. Und schutzlos. Wände verschieben sich. Zimmerfluchten, die mit den surrealen Magritte-Männern bevölkert sind, werden immer mal sichtbar.
Und so kämpfen sie mit vollem Einsatz um die Kinder. Auf der einen, sozusagen dem Hellen, dem Leben zugewandten Seite die fabelhaft kämpferische Sally Matthews als Gouvernante. Unterstützt von Carole Wilson als mütterlich anteilnehmende, aber schwache, immer wieder in ihre Küchenarbeit fliehende Haushälterin Mrs. Grose. Auf der anderen, dunklen Seite ringen Julian Hubbard als fieser Peter Quint und Giselle Allen als rothaarige Miss Jessel um den endgültigen Triumph im Kampf um Miles und Flora (fabelhaft verkörpert von Henri de Beauffort und Katharina Bierweiler).
Mit einer so präzisen wie auch präsenten, aber nie überdosierten Bewegungschoreographie nimmt das Unheil seinen Lauf.
Beim Streaming der Premiere erhöhten die Kameraperspektive und professionellen Schnitte durchaus die Wirkung und wurden zu einer eigenen Drehung der metaphorischen Schraube. Zwischendrin gibt es auch mal einen Blick auf Ben Glassberg und die Musiker des La Monnaie Chamber Orchestra, das präzise das Gespenstische hörbar macht, was man auf der Bühne sieht. Bei der puren Übertragung auf den heimischen Bildschirm allerdings kommen diesmal störend viele Mikropausen und ein permanentes Knacken wie bei eingestaubten Vinyl-Schallplatten ins Gewinde. Das würde bei einer Livepremiere im Opernhaus nicht passieren. Ein spannender Breth- oder (bzw. und) Britten-Abend war das dennoch.