Werden sie es vollenden? Können wir diese Hoffnung teilen? Und können wir sie noch immer auf die Lehren des Kommunismus bauen? Heute ziehen ja mancherorts ganz andere Horden durch die Straßen und proben den Aufstand gegen „das System“. Wer sind denn die Erbinnen der Pariser Kommunardin Louise Michel, der Guerillera Tanja Brunke, der revolutionären Mutter aus Gorkis Roman? Ulrike Meinhof? Petra Kelly? Greta Thunberg? Oder ist es Alice Weidel vorbehalten, Nonos revolutionäres Frauenbild endgültig zu Grabe zu tragen?
Man wüsste gar zu gern, wie der Regisseur Sebastian Baumgarten sich zu solchen Fragen stellt. Zumal er das Problem der Historisierung von Nonos Revolutionspathos offenbar sieht. In Janina Audicks attraktiv offenem Spielraum mit glattem Spiegelboden nämlich, dessen zentrales Artefakt ein abstrakter, geborstener Frauenkopf ist, begegnet uns eine Figur, die nicht im Libretto steht: eine schrille zarte Fantasy-Lady mit klobigen Füßen, gekleidet in eine weiße Skelett-Weste, geschmückt mit roter Federmähne. Aus Nonos revolutionärer Welt stammt dieses Fabelwesen ganz sicher nicht. Aber wenn man dann auf der Rückwand der Bühne die Worte liest: „Es wird wieder Leben geben, so sagen sie“, dann könnte man sie vielleicht als Sendbotin einer postapokalyptischen Zivilisation deuten, eine Zeitreisende mit der Mission, die prä-apokalyptischen Revolutionen zu dokumentieren, damit es im nächsten Leben, das da kommen soll, nicht wieder schief läuft. Und so hält diese Federmähnenfrau den Revolutionären immer mal wieder ihr Mikrophon vor die Nase und bannt deren Sentenzen auf ein Tonband. Und in einigen der instrumentalen „Reflexionen“ sieht man auf den Videos von Chris Kondek, wie die Frau die Bänder zusammenschneidet und auf deren Oberfläche revolutionäre Parolen entdeckt. Man denkt unwillkürlich an Nonos eigene Tonbandeinspielungen mit revolutionären Klang-Fundstücken, die ja in dieser Oper zu hören sind. Doch Nono, seit 1952 bis zu seinem Tod 1990 Mitglied des Partito communista italiano, tat das ja nicht aus dem Bewusstsein einer historischen Differenz heraus, sondern im Gegenteil als Bekenntnis zur revolutionären Tradition des Kommunismus. Mit diesem Fabelwesen wird man den Komponisten schwerlich in Beziehung bringen. Man fragt sich, aus welchem obskuren Theaterfundus es wohl gekrabbelt kam.
Ansonsten bebildert Baumgarten die Handlung geradezu beflissen deutlich: Wie in einem opulenten Diorama werden revolutionäre Schaubilder in den ironisch historisierenden Kostümen von Christina Schmitt gestellt, zu jeder Szene liefert projizierter Text eine Art Gebrauchsanweisung oder die Biographie einer Figur. Die reichlich auf die Rückwand projizierten Videos verdoppeln, was man auf der Bühne sieht, und die Bühne verdoppelt, was man in der Musik hört. Wenn die „Unterdrückungsmaschinerie“ losstampft, wird im Video von Chris Kondek ein menschlicher Körper durchs Mahlwerk gedreht, und die Revolutionäre auf der Bühne sehen sich von einem gewaltigen Eisenkoloss bedroht, der sich auf sie herabsenkt. Man muss Baumgarten und seinem Team zugute halten, dass sie auf diese Weise Nonos sperriges Werk dem Publikum offenbar sehr gut vermitteln konnten. Jedenfalls wurde die Premiere begeistert beklatscht und bejubelt. Doch die ganze Bilder-Überfülle wirkte bisweilen wie ein multimedialer Opernführer: Man fühlte sich didaktisch überversorgt und interpretatorisch unterfordert.
Nicht hoch genug loben kann man allerdings die musikalische Ensembleleistung dieses Abends, die weitgehend ohne die reisenden Stars der neuen Musik erbracht wird. Michael Clark hat den Chor hervorragend auf seine enorm schwierige Aufgabe vorbereitet. In dem Sopran-Quartett, das Figuren wie der Hure Deola eine verführerisch schöne multiple Stimme gibt, steigt Sara Hershkowitz auf in die atemberaubenden Stratosphären der dreigestrichenen Oktave, wo auch Rainelle Krause als Tania Brunke, nicht minder eindrucksvoll, aber lyrisch-inniger, ihre vokalen Kunststücke vollbringt. In den unteren Regionen der weiblichen Singstimme gibt Noa Frenkl der Mutter eine herbe Kraft und Wärme. Der Dirigent Jonathan Stockhammer koordiniert diesen ganzen Riesenapparat sehr souverän. Allerdings setzt er kaum interpretatorische Akzente und bleibt dem Werk auch einiges an dynamischer Differenzierung und Delikatesse schuldig.
Nonos Musik entwickelt hier ja eine ganz eigenartige Affinität zu Melos und Belcanto und gerade in den erwähnten innigen Episoden auch zur zarten Polyphonie der italienischen Renaissance. Das spürte man bei Stockhammer zu wenig, weil alles sehr direkt und manchmal laut kam. So aber blieb sowohl in der Musik wie auch in der Inszenierung die Frage nach einer heutigen Utopie leicht unterbelichtet, weil zu viel Vordergründiges in ein eher grelles Licht gerückt wurde.