Foto: Tim Hebborn bringt am Theater Bielefeld "Annie Ocean" von Mario Salazar zur Uraufführung. Da verzweifelt der Ehemann (Lukas Graser, rechts): Seine Annie (Isabell Giebeler) braucht nicht viel zu ihrem Glück, nämlich nur ein Sofa und einen so kuscheligen wie kerligen Kerl (Sebastian Graf). © Philipp Ottendörfer
Text:Jens Fischer, am 22. November 2015
Ins linke Nasenloch der Zuschauer drängt ätzend Zigarettenqualm, ins rechte schmeichelt der Duft einer lasch gewürzten Tomatensauce. Ganz links auf der Bühne ist das plüschmuffige Doppelbett-Zimmer eines trutschigen 2-Sterne-Hotels hergerichtet – als Treffpunkt, an dem Annie Ocean außerehelich einige Leidenschaften mit Jack auslebt. Rechts davon lockt trostlos eine Küchenzeile zum familiären Trott, Annies Ehemann Bill köchelt apathisch vor sich hin. Szenen einer totgeborenen Ehe, inszeniert von Tim Hebborn.
Autor Mario Salazar umreißt den Konflikt seines Stücks „Annie Ocean“ als inneren Kampf unser Kultur: Egomanisch ausgelebte Barbarei versus verantwortungsvoll praktizierte Zivilisation. Beide Antriebe stehen bei Salazar kompromisslos nebeneinander. Hebborn kümmert sich um einen Ort der Begegnung, baut zwischen Lotterbett und Loser-Bude einen stilisierten Saloon. Das passt auch inhaltlich, wählte der Autor doch das Cowboy-Genre als mythologischen Ursprung der handelnden Figuren, also die anmaßende Ideologie der weißen Siedler, mit europäischem Migrationshintergrund ein Vorrecht zur Landnahme Amerikas und daher die Pflicht zum Genozid an den störenden Ureinwohnern zu haben.
Sprachlich sehr elegant schält Salazar sein Personal aus der selbst verfassten Western-Prosa und überführt es in das müd lauwarme Alltagseinerlei beziehungsweise die hellwach hitzige Sex-Abenteurerei. Wobei die Figuren monologisch – abwechselnd aus der emotionalisierten Ich- und neutralisierenden Erzählerperspektive – ihre Lebenslügen anpreisen und in kurzen, pointierten Dialogen dem jeweiligen Gegenüber verkaufen wollen. Obwohl Aspekt für Aspekt in poetischen Miniaturen auf den Punkt genau formuliert ist, bleibt Verständigung aus. Zur Erholung fabuliert Salazar dann alle Figuren wieder zurück in den Wilden Westen.
Hebborn gelingt dieses Überblenden der Sprach- und Handlungsebenen famos schlicht. Die Hauptdarsteller setzen einen Cowboyhut auf, nehmen ihre Gitarren, eine Jack-Daniels-Flasche und inszenieren den Text als Hörbuchtheater mit Musik im Country-&-Western-Stil. Wenn laut Besetzungsliste hunderte Pferde mit ledergegerbten Pistoleros ganze Tipi-Dörfer niederbrennen und Apachen schlachten sollen, werden Konservendosen plattgetreten, Tomaten zermatscht, Möhren geschreddert. Und zwar mit derart aggressivem Ernst, dass es nie trashig komisch, sondern beklemmend wirkt. Zudem reitet in den dazu projizierten Filmschnipseln nicht mehr John Wayne durch den Grand Canyon: Ein Panzerkrieg wird in der malerischen Technicolor-Landschaft ausgetragen.
Die Darsteller wandeln lässig souverän zwischen dem hyperrealen Kinodrama und ihren alltagsrealen Gefühlskalamitäten. Die Salazar küchenpsychologisch ausbreitet. Wenn Annie ihr Leben zu viel, zu öde wird, zieht sie sich auf die Couch ihres toten Vaters zurück, schaut wie in den Kindheitstagen immer und immer wieder seine Westernfilme, in denen Männer noch echte Männer waren, nach Freiheit stanken und Zukunft als Verheißung verstanden, die schon in der Gegenwart alles erlaubt. Deswegen liebt Annie ihren Jack, den einsamen Wolf, den kernigen Typen: Raucher, von Kopf bis Hüfte tierisch behaart, üppig bemuskelt. Ein Cowboy!
Da die Zeit, gen Westen zu ziehen, aber vorbei ist, zieht er mit der Bundeswehr nach Afghanistan. In den Krieg. Töten oder sterben – diese Lebenssituation macht ihm Spaß. Aber jeden Fronturlaub widmet er Annie. „Das ist Jacks Zuhause / Für sie kehrt er heim / Mehr hat er nicht“. Annie verlässt dann Tage, Wochen, Monate lang „Das Leben / Das Angeschaffte“: Mann, zwei Töchter und Einfamilienreihenhaus-Wohlstand. Ihr Gatte (Lukas Graser) wird nicht geschont: „Bill / Du bist ein guter Vater / Kein guter Freund / Du bist langweilig“. Und was macht den Nebenbuhler so anziehend? „Jack weiß, wie man eine Frau anfassen muss, weich, mal fester, mit sicherem Griff, nicht immer nur dieser einfühlsame zivilisierte Scheiß.“ Und überhaupt: „Jack sagt, erst im Krieg weiß er, dass er am Leben ist. Ich möchte auch so ein Leben haben.“
Salazar hat mit Annie eine Frauenfigur antizipiert, die aktuell durch die Medien geistert. Eine, die auch mit Sprengstoffgürtel durch Paris laufen, mit Kalaschnikow durch Syrien marodieren könnte. Auch Jacks fanatische Hassattacken, endlich massenmordend die Rache für 9/11 zuendezubringen, wirken dank Sebastian Grafs hochenergetischer Darstellung vor allem beängstigend und kommen rhetorisch der IS-Propaganda recht nah.
Der Regisseur verzichtet auf kurzfristige Aktualisierung, zielt auch weniger ins Parabelhafte wie der Autor, sondern ins menschlich Konkrete. Betont Ambivalenzen. Jack ist nicht nur böse als triebenthemmter Killer und rassistische Hetzer, er ist auch charmant sexy. Sehr verführerisch. Bill ist nicht nur die gute, magische Stimme der rettenden Vernunft, er ist auch eine mal tranig an Bierflaschen nuckelnde, mal panisch wimmernde Angstbombe. So gar nicht verführerischer Vertreter westlicher Toleranzkultur. Und Annie ist nicht nur die zu kritisierende Hedonistin, die zwischen Raucherfreuden und Tomatensauceeinerlei hin und her eiert. Sie will ihre von Papa eingepflanzten Lebensorientierungsmarken aus dem Herzen und dem Hirn reißen. „Ich liebe dich. Das kotzt mich an!!!“, faucht sie Jack an. Später ist sie schwanger – und er tot. Darstellerin Isabell Giebeler führt die Zerrissenheit ihrer Annie mit liebevollem Furor an den Rand der Verzweiflung. Wieder mal ein großer kleiner Abend auf der klitzekleinen Bühne unterm Dach der Bielfelder Schauspielbühne.