Foto: Carsten Faseler und Kirsten Pothoff in "Wild", der Umschreibung des Falls Snowden © Tobias Kreft
Text:Jens Fischer, am 27. Januar 2019
Ein nerviger Typ, freudlos, nervös, angespannt, unsicher – einsam. Aber nicht in den Sand steckt er seinen Kopf, sondern alpträumt davon, ihn in ein Bildermeer zu tunken, das auf die Bühnenrückwand projiziert ist: ein mediales Rauschen der Aufnahmen von Überwachungs-, Handy-, Web- und TV-Kameras. Ganz tief ist er eingetaucht in die digitale Welt, hat Beweise gestohlen und öffentlich gemacht. Aus Empörung über das Ausmaß der dort anlasslos praktizierten globalen Massenüberwachung seines Arbeitgebers, einem US-Geheimdienst. Vor ein paar Tagen saß der junge Mann noch wie ein x-beliebiger Twen mit seiner Freundin unbeachtet in einem KFC-Imbiss, nun ist er Amerikas meistgesuchter Verräter und weltweit verehrter Held der Aufklärung über die Technologie, die das Konzept Privatsphäre als Anachronismus entlarvt hat. Nennen wir den Jungen Edward, auch wenn er in Mike Bartletts kauzig paranoidem Agententhriller „Wild“ Andrew heißt. Sebastian Martin inszenierte ihn in Paderborn als deutschsprachige Erstaufführung und ließ Hauptdarsteller Carsten Faseler als Snowden-Lookalike herrichten.
Das von äußerer Handlung befreite Dialogdrama interessiert sich für die Psychologie des Whistleblowers – das Warum seiner Tat und wie sie ihn als nun staaten- wie hilflosen Flüchtling verändert hat – und fragt, wie die Weltöffentlichkeit mit der Offenbarung umgeht. Andrew wird als Gefangener seiner Tat vorgestellt. Als Versteck dient ihm ein Moskauer Hotelzimmer. Tobias Kreft baute es mit künstlichen Stoffen, gedämpften Farben als einen dieser 08/15-Übernachtungsketten-Unorte, ohne Atmosphäre und Identität. Einfach so hinein schreiten provozierende Ausfrager, mysteriöse wie bedrohliche Figuren, halb im Realismus der Andrew-Geschichte verankert, halb als Gesandte des absurden Theaters fungierend. Nach jeder Satzwendung sind sie nicht mehr das, was sie eben noch vorspielten. Nämlich als Vertreter einer Wikileaks nachempfundenen Organisation den Auftrag zu haben, Andrew zu rekrutieren. Aber der will sich von der zuerst auftretenden George (Kirsten Potthoff) nicht vereinnahmen, nicht verführen, nicht erpressen lassen. In Zeiten des Kalten Kriegs, so George, hätte sie als vertrauensbildende Maßnahme nun mit ihm geschlafen, jetzt aber müsse echtes Blut fließen – Selbstverstümmelung bietet sie als Beweis ihrer ehrbaren Absichten an. Zelebriert diesbezüglich aber einen klassischen Zaubertrick.
Andrew begegnet schon frühzeitig ihrem Katz-und-Maus-Spiel mit dem Gesichtsausdruck eines Jungen, der etwas essen soll, was er so gar nicht mag. Wie eine Psychoanalytikerin hockt sich Frau George daher neben ihn und lockt ihn zum Erzählen. Ob er ein Altruist sei, ein abenteuerliches Leben führen, Superstar werden wollte? Nein, Andrew hat hehre Motive, befürchtet er doch einen globalen Kollaps und führt aus: „Wir alle haben den Glauben verloren. Die Reichen werden reicher, und die Politiker sind so abgehoben, dass sie, ohne zu heucheln, nicht mehr reden können, Erfahrungen werden immer unbedeutender, und die Ressentiments wachsen, wenn wir alle an nichts mehr glauben und der Rest an Vertrauen aufgebraucht ist, wird alles zerfallen… Das ist der Grund, weshalb ich es getan habe. All das Zeug veröffentlicht. Die Widersprüche zu erkennen, ist der einzige Weg, unser Vertrauen in unser Handeln zu stabilisieren – das System offen zu legen – und zu diskutieren und uns dann auf etwas zuzubewegen, hinter dem wir stehen können. Etwas Faireres, Offeneres und Transparentes. Nicht autoritär, sondern wirklich einvernehmlich.“ Klingt idealistisch. Sei aber naiv. So George. Denn Andrews Vision würde kaum geteilt. Viele Menschen machen sich online schließlich selbst nackig und opfern ihre letzte Würde für ein bisschen Aufmerksamkeit. Die Tatsache, dass digitale Kommunikation ausspioniert wird durch Staaten und Unternehmen wie Google oder Facebook, habe laut George nur allgemeines Schulterzucken zur Folge – solange das WLAN funktioniere, Netflix sende und der Status quo des Wohlstands, die Freiheit des Konsums und das Eigentum gesichert seien. Passend dazu wird das Publikum bei Szenenwechseln mit schmerzhaft gleißenden Lichtattacken aus der passiven Zuschauerhaltung aufgeschreckt.
Zur weiteren Verwirrung tritt noch ein Herr George als Geheimagent auf (David Lukowczyk). Es gelte, Andrew vor drohenden Mordanschlägen zu beschützen, behauptet er. Aufrichtig wirkt das nicht. Andrew dreht nun komplett durch. Fühlt sich verfolgt, belauscht, hört wie Woyzeck überall Stimmen der Bedrohung. Dem am Boden wimmernden, fortgesetzt mit Schmerzensmanngrimasse agierenden, partiell stotternden Andrew offenbaren sich schließlich beide Georges als Vertreter einer kafkaesken Macht, die den Luxus der Anonymität genießt und nichts anderes als Ruhe, also keine aufrührerischen Hacker erleben wolle. Wie in George Orwells „1984“ soll Andrew daher zu einem willfährigen Jedermann umgepolt werden. Dafür wird ihm Schutz garantiert. Er erlebt das, was er kritisiert und macht die eigenen Ängste wahr: gefangen und total kontrolliert in scheinbarer Autonomie zu sein.
Andrews Verwandlung geschieht unter magischem Einsatz der Bühnentechnik in einer Art Folterszenario. Die ins Wanken geratene Welt, die Realität als Kulisse, das erlebt er am eigenen Leib – und stimmt allen Forderungen seiner Peiniger zu. So präsentiert „Wild“ die Wahnidee der Populisten von einer internationalen Verschwörung aus Politik und Kapital mit ihrer geheimen Agenda wider die Bürger als nützlichen Idioten, denen die Wut ihrer Ohnmacht genommen werden soll. Gebrochen, also hinterfragt wird diese spekulative These nicht mehr. So ist das redselige auch ein fragwürdiges Stück. Das aber Aspekte der aktuellen Datensammeldiskurse pointiert formuliert und mit sardonischen Witzen kommentiert.