Foto: John von Düffels Bearbeitung der "Bakchen" nach Euripides am Theater Ulm © Ilja Mess
Text:Manfred Jahnke, am 17. April 2015
Eine fragmentierte zerstörte Treppeninstallation (Bühnenbild: Mona Hapke) beherrscht die in blaues Licht eingetauchte Bühne. Im Gegenlicht steht im Nadelstreifenanzug eine zwitterhafte, geheimnisvolle Figur: der junge Gott Dionysos, der nach Theben gekommen ist, um die Ehre seiner Mutter Semele wieder herzustellen. So beginnt die Inszenierung der „Bakchen“ von Andreas von Studnitz, die John von Düffel „nach Euripides“ neu eingerichtet hat. Der Chor ist verschwunden, die Handlung entsprechend verschlankt, die Sprache modern angepasst. Und der in Klammern gesetzte Zusatz „(Pussy Riot)“ verdeutlicht, dass auf aktuelle politische Prozesse angespielt wird, aber auch nicht die furchtbare Familiengeschichte, die in jeder griechischen Tragödie unauflösbar mit politischem Handeln verbunden ist, unterschlagen wird.
Der Gründer Thebens, Kadmos (Wilhem Schlotterer), hat die Macht seinem Enkel Pentheus übergeben, weil er selbst nur Töchter zeugte. Sie leben sozusagen in einer „Unterwelt“, die hochgefahren wird. Drei nebeneinander angeordnete niedrige Zimmer – der unordentliche Raum des Greises, der Kontrollraum des Enkels und das Zimmer der Schwestern – verdeutlichen, wie tot diese Lebenden eigentlich schon sind. Bei seinem ersten Auftritt sitzt Pentheus vor einem Bildschirm, um die Kontrolle über sein Volk zu behalten. Fabian Gröver zeigt diesen als einen von Angst getriebenen, fast immer schreienden Mann, der alles seiner Herrschaftssicherung unterordnet, auch die Familie, die aus dem alten schlurfenden Kadmos und drei Frauen (Aglaja Stadelmann, Christel Mayr und Renate Steinle), die von ihrem ungelebten Leben gekennzeichnet sind – und deshalb um so schneller dem neuen Gott verfallen wie auch der Seher Theiresias (Jörg-Heinrich Benthien). Dieser, gezeugt von Zeus und Semele, die noch vor der Geburt vom Blitzstrahl des Göttervaters getroffen wurde, von Zeus selbst im Oberschenkel ausgetragen, wird von Pentheus nicht als Gott anerkannt. Für ihn wollte Semele nur eine heimliche Liebschaft verbergen.
Wenn Euripides mit Dionysos den Einbruch des Irrationalismus in die Rationalität der Macht vorführt, so vermischen sich bei von Düffel solche Zuordnungen: die „Rationalität“ der Macht wird selbst problematisch und der Einzug des Gottes schillert zwischen Revolte, Revolution und Rache. Trotz aller Psychologie, die der Bearbeiter seinen Figuren gibt, bleibt die Inszenierung von Studnitz geheimnisvoll schwebend. Sie arbeitet mit einer sehr archaischen Bildersprache, mit fast opernhaften Arrangements, mit einer raffinierten Lichtregie, in der die dunklen und blauen Töne dominieren. Wenige, dafür genau gesetzte Videoeinspielungen ergänzen diese flirrende Stimmung, die auch durch die Musik verstärkt wird. Robert Ellidge‘ „Sea Song“ wird leitmotivisch eingesetzt. Die Bakchen selbst werden von der Ballettcompagnie des Theaters Ulm wild und tobend umgesetzt (Choreographie: Yuka Kawazu).
Andreas von Studnitz ist eine dichte, atmosphärische Inszenierung gelungen, die mit wenigen Zeichen auskommt, die dafür um so mehr wirken. Das zeigt der Schluss, wenn Agaue im Wahn, er sei ein Löwe, ihren Sohn Pentheus zerreißt. Sie hält seinen abgetrennten Kopf in Händen, als Dionysos sie aus ihrem Wahn befreit. „Welches Leid kann jetzt noch kommen?“ fragt sie ihren Vater Kadmos. Er antwortet: „Die Dauer Kind/Die Dauer.“ Da ist Dionysos schon entschwunden, der in diesem Spiel seine furchtbaren Seiten zeigt. Dionysos wird von einer Frau gespielt, Sidonie von Krosigk, die schmal und jung alle Zwitterhaftigkeit des Göttlichen ausspielt.