Foto: Lin Lin Fan (Arbace), Yuriy Mynenko (Artaserse) und Damen und Herren der Statisterie © N. Klinger
Text:Joachim Lange, am 13. Dezember 2015
Welchen Stellenwert Pietro Metastasio (1698-1782) als der Librettist des 18. Jahrhunderts hatte, erkennt man allein schon daran, dass seine Version der Artaserse-Story fast 90 mal vertont worden ist. Nach Leonardo Vinci (1730) u.a. von Hasse, Gluck, Graun, Jommelli oder Cimarosa, um nur einige der Prominentesten zu nennen. Zu diesem Phänomen gehört auch, dass es 1746 zwar schon mal eine Aufführung von Vincis „Artaserse“ in Dresden gab, sich das Staatstheater Kassel die erste szenische Neuproduktion des barocken Schmuckstücks in Deutschland nach so langer Pause aber gut und gerne als höchst verdienstvolle Ausgrabung anrechnen darf. Sicher profitiert dieser durchaus gewagte barocke Parforce-Ritt von der kleinen Vinci-Renaissance, die derzeit ins Laufen kommt. (Siehe „Didone Abandonata“ in Schwetzingen). Die DVD- und CD-Einspielungen, bei der fünf der sechs Rollen von den Countern Philippe Jaroussky, Franco Fagioli, Max Emmanuel Cencic, Valer Sabadus und Yuriy Mynenko gesungen wurden und nicht eine einzige Frau mitwirkte, sind Fluch und Segen für diese Neuproduktion zugleich. Ein solches vokales Feuerwerk wie es der eingespielte und konzertant auch in Deutschland zu sehende französische Wiederentdechkungs-Glückstreffer aus Nancy bietet, kann kein normales Stadt- oder Staatstheater, ja nicht einmal eins der Barockfestivals aufbieten. Da muss man einfach auf dem Teppich bleiben. Aber die Musik und ihr Feuer sind dadurch bekannt geworden. Es ist ja außerdem der Normalfall, dass diverse Einspielungen um einiges über der Theaterpraxis schweben.
Doch so, wie das jetzt in einer gemischten Besetzung in Kassel gelungen ist, lohnt es sich nicht nur, sondern beweist, dass auch ein gut aufgestelltes mittleres Haus mit etwas Gefühl für den barocken Sound, keineswegs vor dieser Art von Italientripp zurückschrecken muss.
Leonardo Vinci (1690-1730) hat seine Arienperlen eben zu einer perfekt sitzenden, nie langweilenden oder durchhängenden Kette aufgefädelt. Da ist jeder mal dran. Da dominieren Temperament und Bravour. Das ist Sängerfutter vom Feinsten und klingt eh alles durchweg nach einem wirkungssicheren Best-off. Dafür sorgen vor allem Jörg Halubek und das mit barockem Feeling verblüffende Staatsorchester Kassel.
Regisseurin Sonja Trebes und ihr Team (Bühne: Dirk Becker, Kostüme Isabell Heinke) erzählen die Geschichte um den Sohn des gerade ermordeten Xerxes so klar und nachvollziehbar wie das bei einem TV-Soap tauglichen Metastasio-Libretto halt geht. Zwischen eher unverbindlichem Historisieren und Psychologisieren (mit Traumsequenzen und inneren Stimmen aus dem Off) changiert die Szene zwischen politischer Arena und Irrenhaus. Wobei diese Anfangsidee am Ende nicht wieder aufgenommen wird und die weißen Kittel Episode bleiben. Macht aber nichts. Denn was da vor dem wuchtigen Halbrund einer aus beweglichen Mauerblöcken unter dem gestylten „X“-Logo (es geht um den Mord an und den Thron von Xerxes) auf den Spielflächen und Laufstegen abgeht, die im wahrsten Wortsinn vom Orchester umspült werden, ist durchweg packend.
In Kassel begnügt man sich mit „nur“ einem Countertenor. Der Ukrainer Yuriy Mynenko, (in Köln war er als Megabise mit dabei) bewältigt jetzt die Titelpartie so kraftvoll wie virtuos! In der Melange aus politischen Machtkämpfen und Liebesintrigen wird zwar nicht immer so ganz klar, ob gerade weibliche oder männliche Rollen das Verhalten der Akteure bestimmen, aber zumindest scheiden sich die Guten, wie die zu Unrecht beschuldigte Arabace (Lin Lin Fun agiert hier hochsouverän als Mädchen, das als Mann verkleidet ist) und Artaserses Freundin Semira (Ani Yorentz), bald von den Bösen. Die werden vom Vater von Arbace und Semira, dem Xerxes-Mörder Artabano (geschmeidig: Bassem Alkhouri) und seinem Spezi Megabise (hier bei Inna Kalinina, eine Frau mit Feldherrenformat) angeführt. Artaserses Schwester Mandane (Maren Engelhardt) schwebt da irgendwo dazwischen, warum soll es auch übersichtlich bleiben.
Zum Ende hin wird das Ganze zwar immer traumabsurder – geht aber doch einigermaßen gut aus. Jubel für Vinci und seine Interpreten. Allesamt!