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Die Postdramatik ist sentimental geworden

Thomas Kürstner, Sebastian Vogel: Anna Karenina

Theater:Theater Bremen, Premiere:25.10.2014 (UA)Autor(in) der Vorlage:Leo TolstoiRegie:Armin PetrasMusikalische Leitung:Clemens Heil

Am Ende dieses eigenartigen Abends im Theater Bremen verströmt sich die wunderbare Sopranistin Nadine Lehner geradezu. Über zwei Stunden lang hatte sie uns am Leidensweg ihrer Anna Karenina teilhaben lassen, und die Zuschauer hatten sie, soweit man das aufgrund der Empathie des gemeinsamen Erlebens im Theatersaal beurteilen kann, sehr mitfühlend begleitet. Und nun, zum Finale, steht sie ganz allein auf der Bühne und resümiert das Scheitern ihrer Liebe: „Ich glaube, ich werde wahnsinnig“, eine große Gefühlsarie. Nadine Lehner meistert die für eine Sopranpartie erstaunlich tiefen Passagen makellos, verblendet die Register perfekt, die Höhen leuchten nicht nur, sie lodern geradezu vor Leidenschaft. Schöner und ausdrucksvoller kann man das nicht singen. Und doch bleibt das Gefühl eines Hohlraums hinter all dem Pathos zurück. Was da fehlt, das könnte aber wohl keine Sopranistin der Welt ergänzen. Es liegt nämlich nicht im Wie des Singens. Es liegt in dem, was sie singt.

Der Stuttgarter Schauspielchef Armin Petras hat diesen Abend als Gastregisseur in Bremen inszeniert. Von ihm stammt auch die Dramatisierung von Leo Tolstois großem Roman, die die Grundlage für das Libretto dieses Musiktheaters abgegeben hat. Die Musik haben Petras‘ erprobte Bühnenmusik-Komponisten Thomas Kürstner und Sebastian Vogel beigesteuert. Aber wie soll man das nennen, was die beiden da geschaffen haben? Es ist vielleicht am ehesten eine Art Opern-Soundtrack, den sie in drei „Zyklen“ unterteilt haben, und an dem sich laut Untertitel auch noch „drei Atmosphären“ unterscheiden lassen sollen, ohne dass man recht weiß, was das sein soll. Umso besser erkennt man die Quellen, aus denen sich dieser Soundtrack speist. Da klingt im mit Synthesizer-Soundscapes angereicherten Sinfonieorchestersatz anfangs deutlich erkennbar Bach durch, später auch Beethovens „Kreutzersonate“ (die Tolstoi ja als Motiv für eine Erzählung über eine weitere tödlich scheiternde Liebe diente), Kurt Weills schräge Rhythmen, die kreisenden Patterns der Minimalmusic, überhaupt die US-Moderne von Ives bis Glass und Adams… „Romantische Postdramatik“ nennt der Dirigent Clemens Heil dieses Verfahren laut Programmheft-Interview.

In der Tat: Dieses Material wird nicht im Sinne gezielter Zitate oder „Allusionen“ in eine autonome musikalische Struktur integriert. Stattdessen wird es vollkommen distanzlos als Ausdrucksvehikel adaptiert, wobei allerdings das Gesamtergebnis hoffnungslos hinter seinen Vorbildern zurückbleibt. Beethovens musikalischer Utopismus war viel kraftvoller, Weills entertainernder Drive viel ironischer und gebrochener, Glass‘ rotierender Scheinbar-Stillstand viel bohrender als Kürstners und Vogels gefälliger Soundtrack. Er zielt ganz offenbar darauf, die Handlung expressiv zu vertiefen und archetypisch zu überhöhen, so wie das in der traditionellen Oper ja auch geschieht. Hier soll, zumindest momentweise, große Oper gezeigt werden. Es werden aber nur Klischees von Oper reproduziert, ohne relativierenden Kontext, durch allzu brave ironische Kontrapunkte nur milde gebrochen, andererseits aber auch ohne die artifiziellen Herausforderungen der Oper, ihre strukturelle Vielschichtigkeit, ihre formale Autonomie. Das wirkt streckenweise geradezu dilettantisch. Und an diesen Dilettantismus verströmt Nadine Lehner ihre wunderbare Stimme.

Dass der Abend rein theatral streckenweise dennoch gut funktioniert, liegt an der hohen gesanglichen und schauspielerischen Motivation aller Beteiligten und auch an Petras‘ hochprofessioneller und sehr phantasievoller postmoderner Regie, bei der ihn Jacqueline Davenport choreographisch unterstützt hat. Susanne Schuboth hat eine hohe Holzwand auf die Bühne gebaut, von Balken emporgehoben, so dass man unter dieser Wand hindurch auch das Geschehen auf der Hinterbühne noch erkennen kann. Auf die Wand werden Videos von Rebecca Riedel projiziert: teils von einer Livekamera eingefangene Close-Ups auf die Interaktionen der Hinterbühne, in denen man erkennt, wie ausgefeilt Petras seine Figuren führt; teils aber auch assoziatives Material von meist sehr eindimensionaler Beziehung zum Geschehen: gischtschäumende Meereswellen, wenn die Leidenschaften wogen; ein Birkenwald im Regen als Chiffre der immer mal wieder obwaltenden Melancholie; Bremer Stadtansichten, die den Liebesgeschichten einen sozialen Kontext geben.

Petras konzentriert sich ein seiner stationenhaften Dramaturgie ganz auf wenige zentrale Situationen und auf die drei beziehungsreich ineinander geflochtenen Liebes- und Ehegeschichten von Karenin/Anna/Wronski, Lewin/Kitty/Wronski und Stefan/Dolly. Alle sieben Hauptfiguren haben markante, aber bis auf Anna wenig differenzierte Profile. Man schaut gern zu, wie die labile Kitty als verhuschtes Schneeflöckchen im rosa Tütü über die Bühne taumelt, wie Stefan im papageienbunten Frack den Schwerenöter gibt, wie Lewin mit seiner Milchkanne als plumper Landmann parodiert wird, wie Karenin sich in feister Selbstgefälligkeit übt. Es gibt auch eine ganze Reihe szenischer Ironiesignale. Schon der Beginn, wenn die Figuren nacheinander auftreten und erstmal freundlich grüßend auf Dirigent, Orchester und Publikum schauen, ist eigentlich eine klare Desillusionierungsgeste. Doch durch die eindimensionale Musik und auch durch die erstaunlich distanzlos historisierenden, sehr „schönen“ Kostüme von Karoline Bierner  kippen die ironischen Ansätze immer wieder in die sentimentale Mitleidsdramatik.

Nur einmal hat man die Hoffnung, dass all das gefällige Pathos nur eine raffinierte Strategie ist, eine Fassade, aufgebaut, um sie dann umso effektvoller einzureißen. Das ist im zweiten Zyklus, nachdem Petras bereits Lewins und Kittys Hochzeit als bizarre Kitsch-Zeremonie parodiert hatte, mit einer Art Krönung des Braupaares. Plötzlich kommt dann Lewin mit einer Gitarre unter Video-Holzwand hervor, und das Ensemble stimmt erst Led Zeppelins „Babe I’m gonna leave you“ und dann ein russisches Volkslied an, und plötzlich zertrümmert Lewin die Gitarre wie einst Pete Townshend von den Who, und Stefan fordert in manisch brüllender Panik „Ruhe“. Einen Moment lang scheint es, als würde das ganze Gefühlsarrangement jetzt auseinanderfliegen und in den Fragmenten seiner selbst mit brutaler Direktheit das verdrängte Schreckliche des bürgerlichen Gefühlslebens spiegeln. Doch dann mündet das Ganze wieder ins alte Fahrwasser, bis hin zum finalen Arienmissverständnis, bei dem die Regie die Sopranistin völlig allein lässt.

Gesungen wird in dieser „Anna Karenina“ durchweg ausgezeichnet: Patrick Zielke ein Bass-satter Karenin, Hubert Wild ein Wronski mit dunkelglühendem Feuer, Nerita Pokvytite eine jungmädchenhaft hell strahlende Kitty, Christoph Heinrich ein Lewin mit edel-voluminösem Bassbariton, Nathalie Mittelbach ein herbe Dascha, Martin Baums ein agiler Stefan, dazu der von Daniel Mayr einstudierte, oft episch kommentierende Chor, Jinie Kas Kinderchor, der als Kindesoldaten-Riege für Annas Sohn Serjosha einsteht – da ist ein tolles Ensemble beisammen, sie alle tragen, souverän geleitet von Clemens Heil, die Aufführung auf hohem Niveau durch den Abend. Dafür gab’s viel Zustimmung, und auch Armin Petras bekam beifälligen Dank für seine herzbewegende Seifenoper „vom Suchen und Scheitern einer großen Liebe“ (Headline der Vorankündigung in der Bremer Theaterzeitung). So feiert in Bremen die „romantische Postdramatik“ ihre Erfolge. Aber ehrlich gesagt: Lieber als diese wäre mir sowohl die unromantische Postdramatik wie auch die unpostdramatische Romantik.