Die Poesie des Todes

Michel Houellebecq: Vernichten

Theater:Staatsschauspiel Dresden, Premiere:27.04.2023Regie:Sebastian Hartmann

Michel Houellebecq ist längst auch hierzulande eine Marke. In den Regalen der Buchläden und auf den Debattenseiten des Feuilletons. Manchmal auch darüber hinaus. Eben wurde er (in der Welt!) politisch gerade mal wieder rechts von der Mitte verortet. Dass er einem Pornodreh nicht nur zustimmte, sondern auch mitmachte, sorgte für außerliterarisches Stirnrunzeln; der kultivierte Habitus als  privat extravagant verschrobener Zeitgenosse schadet einem Literaten in Frankreich aber nicht.

Dass sein Roman „Die Unterwerfung“ 2015 am Tag der barbarisch islamistischen Morde an den Pariser Karikaturisten von Charlie Habdo erschien, machte ihn ungewollt zum Buch der Stunde. Seit dem hat Houellebecq seine Kampfzone um Sex und die Moderne um den aggressiven Islam erweitert. Das machte auch hierzulande Furore und führte zu einigen Adaptionen für die Bühne. Am eindrucksvollsten war dabei die Hamburger Einmann-Show mit Edgar Selge. Aber auch am Schauspiel Dresden gab es eine Bühnenversion der „Unterwerfung“.

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„Vernichten” – Ein 620-Seiten Wälzer am Staatsschauspiel Dresden

Auf der großen Bühne tritt dort jetzt Sebastian Hartmann mit seiner „nach“-Version des im Vorjahr auch in deutscher Übersetzung erschienenen 620-Seiten Wälzers „Vernichten“ (im Original: Anéantir) an. Auch der spielt wieder in einer nahen, houellebecq-typischen atmosphärischen Düsternis. Wobei nicht gleich Frankreich, Europa oder die ganze Welt unmittelbar vor dem endgültigen Aus stehen. Wohl aber der mit seinem Arbeitgeber, dem Wirtschaftsminister, befreundete Protagonist Paul Raison. Die niederschmetternde Diagnose eines Mundhöhlenkarzinoms für Paul ist aber nur das Zentrum für einen Panoramablick auf eine ebenfalls auf ihr Ende zutaumelnde Gesellschaft. Vom gefakten Video einer Enthauptung des Ministers, Terroranschlägen, Entführungen, also einem gleichsam metaphorischen Widerschein des großen Weltuntergangs am Horizont.

Nun ist nicht nur Houellebecq eine starke Marke, sondern auch Sebastian Hartmann. Er ist einer der Regisseure, die ihrem eigenen Stern ebenso beherzt und furchtlos folgen, wie sie sich von den Vorlagen entfernen bzw. durch die Brille ihres ganz eigenen Theaters nähern. Diesmal bekommen im dritten Teil eines langen Abends auch die Zuschauer eine altmodische 3D-Papierbrille. Sie erweitert die atemberaubend artifiziellen Videos von Jan Speckenbach zu guter letzt sogar in eine dritte, räumliche Dimension. Was eher einleuchtet als der (dank Nadja Stübiger ziemlich unterhaltsame) Rekurs auf die mit Klavierbegleitung vorgetragene Gesellschaftssatire vom Flachland aus dem 19. Jahrhundert.

Die Bühne voll faszinierender Bilder

Was an diesem Abend vor allem beeindruckt, ist die Faszination der Bilder. Hartmann hat sich eine grandiose Bühne ausgedacht. Baumskulpturen in Scherenschnittmanier a la Caspar David Friedrich im Hintergrund. Ein geheimnisvoller, begehbarer Turm, der bis in den (Schnürboden)-Himmel reicht. Figuren, die in ausgebremster Zeitlupe über die Bühne schreiten. Marin Blülle, Moritz Lippisch, Linda Pöppel, Torsten Ranft, Karoline Schmidt, Nadja Stübiger, Yassin Trabelsi, Viktor Tremmel und Simon Werdelis werden in der Bühnendämmerung dabei nur selten als Individuen erkennbar, treten meist als gleichsam vielstimmiger Einzelner oder als Kollektiv mit einzelnen Stimmen auf. Wenn es dann aber mal einen Monolog, wie den von Linda Pöppel brav an der Rampe exekutierten gibt, bei dem man schon froh ist, wenn sie sich in ihrem moralischen Entrüstungseifer über nahezu alle Ungerechtigkeiten dieser Welt nicht auf der Bühne festklebt, wird es auch mal unterkomplex.

Manchmal glasklar deklamierend, dann wieder in Hartmannscher Manier an der Grenze zum Verständlichen changierend. Immer aber so dicht mit der Atmosphäre der Bilder verflochten, dass das, was gemeint ist, auch ohne einen direkten Umweg über das gesprochene Wort fließt und quasi inhaliert werden kann. Hartmann versteht sich auf dieses somnambule Traumtheater, wie nur wenige der Zunft und er hat es (vor allem im ersten Teil) perfektioniert!

Hartmann entfesselt mit Traumtheater

Für dieses Traumtheater, das über Bilder, Worte und Atmosphäre seine (ahnende, assoziative) (Nach-)Wirkung entfaltet, hat er sich auf ein Umkreisen von Tod und Sterben Pauls konzentriert. Zu dessen Verweigerung einer radikalen Operation, die ihn seinen Unterkiefer und die Zunge kosten würde, passt der Einblick in die katastrophalen Zustände des Pflegeheims, in dem sein Vater nach einem Schlaganfall vor sich hin vegetiert. Diese Innen-, Traum- und Alptraumwelt zelebriert Hartmann auf eine hochpoetische Weise, der man nicht ausweichen kann. Weil sie den Ängsten, die in jedem schlummern, gefährlich nahe kommen. Weil er mit den live gedrehten Bildern von Abstürzen ins Nichts aus dem Inneren des Turmes Traumurängste auf einen Bühnen-Bild-Punkt bringt, wie man das so noch nicht gesehen hat. Hartmann bietet, ja entfesselt ein Schau-Spiel im wörtlichen Sinne.

Die Welt drumherum bleibt Andeutung. Natürlich fallen auch außerhalb der monologischen Standpauke Worte wie Charlie Habdo. Und man kann in dem Skorpion der in diesem Bühnen-Alptraum immer übermächtiger wird, ein Symbol der Angst vor dem Tod oder einer kafkaesken Verwandlung sehen. Oder sich von der morbide Opulenz eines (gerade noch lebenden) Stillebens mit dem nackt aufgebahrten Torsten Ranft faszinieren und zu Assoziationen in viele Richtungen verführen lassen. Oder bei der schlichten Erzählung eines Caterers über einen lukrativen Auftrag in einem bourgeoisen Loft, dessen Bewohner er wohl lieber vergiftet als bewirtet hätte, an eine ins Dunkle projizierte Erinnerung an den längst nicht mehr diskreten Charme der Bourgeoisie denken.

Nach dem langen Abend mit zwei Pausen waren die Reihen zwar etwas gelichtet, aber wer durchhielt, hatte eine Begegnung der besonderen Art mit  dem Theater…