Foto: Peter Rose, Mika Kares, Lauri Vasar, Rolando Villazón, Siyabonga Maqungo, Claudia Mahnke und Michael Volle in "Das Rheingold" an der Staatsoper unter den Linden © Monika Rittershaus
Text:Matthias Nöther, am 3. Oktober 2022
Man wird es nie erfahren – aber so könnte eine Betriebsfeier bei der NSA Crypto City aussehen, und so sieht auch das Finale dieses „Rheingolds“ aus: Ein fensterloser, aber freundlich-lichter Innenhof irgendwo mitten in diesem Riesengebäude. Man hat zur entspannten Betrachtung ein Stück Natur gepflanzt, eine große Esche. Donner – der smarte Bassbariton Lauri Vasar verkörpert einen notorischen „Mitarbeiter des Monats“ – kümmert sich mit ein bisschen Party-Feeling um das auf kreisrunder Sitzbank lauschig zusammenhockende Team mitsamt Chef Wotan. Die überarbeiteten Forscher, Assistenten und Sachbearbeiter sind nach diesem anstrengenden Tag mit dem Ausbruch des wahnsinnig gewordenen Probanden Alberich leicht zu beglücken: Der Zugang zur Festung Walhall, wo eh alle mehr oder weniger wohnen, wird von Donner mit mächtiger Stimme und ein bisschen Zauber-Feuerwerk kurz eingeweiht.
Dieser „Ring des Nibelungen“ an der Berliner Staatsoper Unter den Linden wurde noch von Daniel Barenboim vor langer Zeit eingefädelt – es sollte eine Art musikalisches Vermächtnis werden. Die Akustik war bei der heiß umstrittenen Sanierung des neobarocken DDR-Opernbaus vor allem auf Wagner-Opern zugeschnitten worden. Nun ist Barenboim dauerhaft erkrankt: Der einst von der Deutschen Oper aus rivalisierende Christian Thielemann, der – auch das geht durchaus auf Barenboim zurück – die Staatskapelle bis zu diesem Jahr noch nie dirigieren durfte, leitet die Premiere des „Rings des Nibelungen“. Ob Barenboim je zurückkehren wird, ist noch längst nicht sicher, eingeplant ist er erstmal nicht.
Suche nach Glück
Doch auch ohne ihn ist – das kann man bereits nach dem „Rheingold“ mit Sicherheit sagen – dieser „Ring des Nibelungen“ mutig und schlüssig ausgedacht. Was man sieht und hört, verspricht für die folgenden Abende viel. Zum berühmten Es-Dur-Weltentstehungsvorspiel von Wagners „Rheingold“ sehen wir die schematische Projektion eines menschlichen Gehirns, in dessen Windungen eine dunkle Flüssigkeit einläuft, und wir erfahren, dass die Szene der Rheintöchter mit Alberich und auch alles Folgende nicht direkt in der NSA, aber im „Forschungszentrum E.S.C.H.E.“ spielen. Der Anmutung nach könnte das bloßer Video-Selbstzweck à la Volksbühne sein – doch Regisseur Dmitri Tcherniakov holt tief Luft und hat seine „Ring“-Erzählung offenbar bereits von einem Ende her gedacht, auf das man gespannt sein kann.
Als Riesengebäude mit seinen vielen Büroräumen, Konferenzsälen, Fahrstühlen und, ja, einem Tierversuchslabor im Keller ist das „Forschungszentrum E.S.C.H.E.“ ein allumfassendes System – in den Kategorien Richard Wagners gesprochen: Welt und Walhall zugleich. Es scheint ein Zentrum für die Erforschung, Herstellung und Optimierung menschlichen Glücks und Erfolgs zu sein. Alberich, vielleicht ursprünglich ein ziemlich normaler Arbeitnehmer, hat sich als Proband in einem „Stresslabor“ zur Verfügung gestellt. Er wird in einer gläsernen Versuchskabine und an Drähte angeschlossen in einen künstlichen Schlaf versetzt und wachsam von den Rheintöchtern sowie anderen Glücksforschern beobachtet. Das Erkenntnisinteresse der weiß bekittelten Rheintöchter und ihrer Kollegen hinter der Glasscheibe scheint zu sein, wie man den allgegenwärtigen Stress der Lohnarbeit in positive Gefühle umwandeln kann. Da muss ein Experiment her: Alberichs Stress wird ebenfalls künstlich erzeugt, mit den Stimmen der drei Labormitarbeiterinnen werden ihm leicht bekleidete, schwimmende Frauen sowie ein Goldschatz suggeriert.
Leider geht das Experiment schief. Die Reize sind so intensiv, dass Alberich nicht lediglich das Glück, sondern die Formel für die Weltherrschaft findet: der Liebe entsagen, aus dem Gold einen Ring schmieden und alle Mitarbeitenden des Forschungszentrums E.S.C.H.E. – vielleicht aber auch die ganze Welt – unterjochen und für sich arbeiten lassen.
Zwang der Selbstoptimierung
Der Einstieg des russischen Regisseurs Tcherniakov in Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ ist steil. Bei allem Humor, aller Spielfreude und bei allem offensichtlichen Vertrauen der vorzüglichen Sängerinnen und Sänger in ihre Figuren und auch bei allen punktuellen Gags verzichtet das Team auf spitzfindige Umdeutungen einzelner Details. Dieser „Ring“ ist plausibel, ernsthaft und unverwechselbar auf unsere Zeit und ihre Fragen gemünzt. Es geht um Selbstoptimierung, um vergebliche Sinnsuche in einer überhitzten Arbeitswelt, um technische Manipulation der Menschen, um Ziele, die sich als gegenstandslos entpuppen. Das Gold? Gibt es nicht, die Beteiligten halten es nur als Phantasmagorie in ihren gierig ausgestreckten Händen – analog dazu, dass auch das finale Glück der Mitarbeiter beim „Einzug der Götter“ in Walhall im Gewand einer Betriebsfeier sich als Phantasmagorie entpuppt und in Form von Tischfeuerwerk maximal läppisch ist.
Tcherniakovs System der vergeblichen Glückssuche im Forschungszentrum ist allumfassender als Wagners Universum: Da kann selbst die warnende Urmutter Erda – souverän stimmlich flutend und doch pointiert in Gesang und Text: Anna Kissjudit – nur als aufmüpfige Sachbearbeiterin im politbüro-ähnlichen Konferenzzimmer auftreten. Leidglich die Riesen Fasolt und Fafner – hervorragend textverständlich: Mika Kares und Peter Rose – dürfen als Mafiabosse mit treuem Schlägertrupp eine gewisse Autonomie für sich beanspruchen.
Ein leiser dirigiertes, textverständlicheres „Rheingold“ als das von Thielemann und der Berliner Staatskapelle hat man selten gehört. Der Staatsopern-Neuling und Wagner-Veteran lässt namentlich dem Wotan Michael Volle und dem Alberich Johannes Martin Kränzle liedhafte Entfaltungsmöglichkeiten ihrer Stimme in Dynamik und stimmlicher Charakterisierung. Auch Rolando Villazón, der darstellerisch einen vorzüglich schleimig-zynischen Loge hinlegt, könnte angesichts dieser kundigen Orchesterbegleitung seinen bekanntlich nicht mehr sehr belastbaren Tenor ein wenig herunterregeln. Die Buhs für Villazón sind vorhersehbar, aber ungerecht und bringen diesem immer noch großen Opernmann wenig Wertschätzung entgegen. Bis in kleinste Rollen wie den Tenor Siyabonga Maqungo als gesichtslosen Jasager-Apparatschik Froh ist dieses „Rheingold“ stimmlich vorzüglich besetzt. Die nach ihrem gescheiterten Experiment gefeuerten Ex-Forscherinnen alias Rheintöchter schließen ihren Schlussgesang in Privatkleidung – Evelin Novak, Natalia Skrycka und Anna Lapkovskaja führen in dieser transparenten Dreistimmigkeit die akustischen Vorzüge des hybriden Knobelsdorff-Paulick-Barenboim-Baus Unter den Linden vor.