Foto: "Das weiße Dorf" beim Heidelberger Stückemarkt © Susanne Reichardt
Text:Anne Fritsch, am 1. Mai 2021
„Das weiße Dorf“ steht irgendwo in Andalusien, „in den Alpujarras, zwei Stunden von der Küste“. In Ruths Augen ist es der „vollkommene“ Ort. Den Namen des Dorfes hat sie vergessen. Es ist zum Sehnsuchtsort geworden. Vielleicht war es nie etwas anderes, wer weiß das schon. Die österreichische Autorin Teresa Dopler jedenfalls hat ihr Stück nach ihm benannt. Zwei Jahre ist es her, dass „Das weiße Dorf“ den Autorenpreis des Heidelberger Stückemarkts gewann. 2020 sollte die Uraufführung beim Stückemarkt stattfinden, doch das Festival musste coronabedingt ausfallen. Nun wurde die Premiere endlich nachgeholt. Als Live-Stream. Die Uraufführung hatte im Januar am Theater Drachengasse in Wien ebenfalls online Premiere, nun also kommt die Inszenierung von Ron Zimmering endlich als Deutsche Erstaufführung zum Zug, eröffnet den digitalen Heidelberger Stückemarkt 2021.
Ute Radler hat eine quadratische rostige Plattform in den Raum gestellt, die zu schweben scheint. Durch Bewegungen gerät sie leicht ins Schwingen, aus der Balance. Wie die Leben ihrer Figuren. Wie der Boden des Kreuzfahrschiffes, auf dem Dopler ihr Stück verortet. Dass dieser Schauplatz in diesen reisefreien Monaten anachronistisch wirkt, passt zum Inhalt. Nicht nur die Kreuzfahrt ist aus der Zeit gefallen, auch die Beziehung der beiden Menschen, die sich hier zufällig wieder begegnen. Ruth und Ivan. Früher waren sie einmal zusammen, dann ging er nach Amerika, für die Karriere. Sie trennten sich. Aus Vernunft. Machten Karriere. „Erfolg zu haben, war damals das Wichtigste.“ Nun stehen sie sich auf einmal gegenüber, durchfahren 14 Tage lang mit einem Schiff den Amazonas, den Regenwald. Ruth ist mit Ben hier, Ivan mit Lea. „Ich freu mich, dass es dir so gut geht.“ – „Dass uns beiden alles so gut gelungen ist, das ist ein großes Glück.“ Solche Sätze sagen sie einander. Sie sind zwei, die eine Vergangenheit haben, aber keine Zukunft. Nur diese fragile Gegenwart einer Kreuzfahrt. Keine Freunde mehr, aber auch keine Fremden.
Sie beteuern, dass es ohnehin nicht geklappt hätte, dass sie sich wohl auf die Nerven gegangen wären. Dass die neuen Partner*innen ihnen gut tun, sie glücklich machen. All das ist nicht gelogen. Und doch. Sie stehen an der Reling und schauen zu, wie das Ufer vorüberzieht wie ihre Leben. Sie saugen das Leben des anderen in sich auf, das unter anderen Umständen das eigene hätte sein können. „Bin ich eigentlich größer als Ben?“, fragt er einmal. „Wie ist es, mit Lea zu schlafen?“, fragt sie. Immer ist da der Subtext: Vermisst du mich? Bereust du unsere Trennung? Irgendwann malen sie sich aus, wie es wäre, miteinander zu schlafen, durchbrechen das Unverfängliche für einen Moment. Doch es bleibt beim Gedankenspiel. Katharina Ley und Friedrich Witte, die das Zweipersonen-Stück in Heidelberg spielen, halten Sicherheitsabstand. Nicht nur wegen Corona. Sie spielen zwei, die ihre Leben im Griff haben, sich an die Regeln halten. Ausgelassenheit gibt es nur in den Traumsequenzen, die Ron Zimmering zwischen die kurzen Szenen inszeniert: Da wird es dunkel, da umkreisen sie sich wie wilde Tiere, die auf den besten Moment zum Angriff warten. Da verspritzt er auch mal den Inhalt einer Coladose auf sie. Ein kurzer, nur geträumter Ausbruch von Ekstase. Zimmering vertraut ganz dem dichten Text, verzichtet auf Requisiten, lässt die Atmosphäre aus den Worten erwachsen und den Pausen zwischen den Worten. Manchmal ist all die unterdrückte Emotion schwer auszuhalten, der konstant gleiche, kontrollierte Tonfall. Man könnte den Text auch sehr kitschig inszenieren, darauf verzichtet Zimmering klugerweise.
Teresa Dopler hat einen reduzierten Text geschrieben, der die Zwischentöne hörbar macht und ohne unnötige Erklärungen in den Kern dieser Beziehung vordringt. Die Sehnsucht ist zum Störfaktor geworden in dieser kapitalistischen Gesellschaft. Etwas, das man nur zulassen kann, solange es der beruflichen Selbstverwirklichung nicht im Wege steht. Das ist der Konsens, in dem diese Figuren verankert sind. Glück ist etwas, das man sich erarbeiten kann (und muss). Etwas, das sich in großen Wohnungen und eben in teuren Kreuzfahrten messen lässt. Immer wieder erzählen sich die beiden Beobachtungen oder Begebenheiten, die zu rätselhaften Sinnbildern werden. Sie sehen am Ufer Kinder, „so viele“. „Viel zu viele.“ Ruth beobachtet Einheimische, die Ziegelsteine ans Ufer werfen. Immer neue. Auch wenn viele zerbrechen und es staubt: „Im Grunde war es ihnen egal.“ Das Kreuzfahrtschiff selbst ist auch ein „weißes Dorf“, von dem die Reisenden auf die Einheimischen schauen, deren Haut „dieselbe Farbe hat wie der Fluss“. Es ist ein Blick von oben herab, ein oberflächlicher. Mehr ist nicht vorgesehen. In postkolonialistische Debatten verheddern sie sich nicht. Nicht auf dieser Reise. Nicht in diesen Leben. Dopler lässt die Beobachtungen für sich stehen, sie werden nicht hinterfragt, nicht diskutiert. Schnell ist jede*r wieder bei sich, kreist um sich selbst. Und doch schwingt das große Ganze in jedem Moment mit. Der Preis, den sie für dieses Leben zahlen.
„Das weiße Dorf“ ist im Kern ein Stück über verpasste Möglichkeiten und die ewige Frage: Was wäre, wenn? Wie wäre das eigene Leben verlaufen, wenn wir uns an einem bestimmten Punkt anders entschieden hätten? Für ein anderes Leben? Einen anderen Menschen? Da sitzen sie auf dem Boden, der Rost angesetzt hat wie ihre Vergangenheit, und klammern sich an die Hoffnung, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Denn das ist leichter, als mit der anderen Möglichkeit zu leben. Der, dass es doch funktioniert hätte, vielleicht sogar wunderbar. Sie haben sich nicht im Streit getrennt, haben ihre Beziehung nicht zu Ende gebracht. Und müssen nun mit der Möglichkeit leben, die sie verpasst haben. Der Möglichkeit eines Dorfes. Damals wollten sie nach Andalusien reisen, hatten aber „keine Zeit mehr“.
Sie haben relativiert, was zwischen ihnen war, wollten glauben, dass es für alles eine Alternative gibt. Dass sie vergessen und neu anfangen werden. Dopler zeichnet das subtile Portrait zweier Menschen, die nichts verpassen, sich nicht zu früh festlegen wollten. Als sie sich wieder begegnen, wird spürbar, dass das nicht funktioniert hat. „War es ein großer Fehler, dass wir uns nicht mehr gesehen haben?“, fragt Ivan. „Ja, ich denke, das war ein großer Fehler“, antwortet Ruth. Sie fühlen sich wie „die größten Idioten“. Dennoch: Keine*r von ihnen würde dem anderen hinterher springen in den Amazonas, ins Unbekannte. Sie belassen es bei der Fantasie, hoffen wiederum auf das Vergessen und die Arbeit, die ihnen „keine Zeit für Sehnsucht“ lassen wird. Sie sind wie der Rio Negro und der Amazonas, die irgendwann aufeinandertreffen. Sie fließen in einander, ohne wirklich eins zu werden. Ihre Wasser vermischen sich nicht, bleiben hellbraun und schwarz.