Foto: Die Ernüchterung auf dem Laufsteg: Cameron Shahbazi als Disinganno © Wil van Iersel
Text:Andreas Falentin, am 29. Oktober 2018
Immer wieder wird behauptet, die Kunstgattung Oper sei in der Krise, sie fände keine Wege ins 21. Jahrhundert, in dem ihr das Publikum wegzusterben drohe. Zur Widerlegung all dieser Thesen sei jedem Musiktheaterskeptiker ein Besuch im äußersten Westen der Republik wärmstens empfohlen. Da spielt das Theater Aachen bis Februar achtmal „Il Trionfo del Tempo e del Disinganno“, Händels erstes Oratorium. Und macht aus der allegorisch verspielten, opulenten und sehr katholischen, von einem Kurienkardinal im Jahre 1707 erdachten Geschichte ein treffsicheres, vor Energie berstendes und dabei ungeheuer leichtfüßiges Porträt der Generation Smartphone.
Ric Schachtebeck hat eine Laufsteglandschaft in das Aachener Theater hineingebaut, die sich bis ins hintere Parkett zieht und sich um Zuschauertribünen links auf der Bühne und rechts im Orchestergraben herumwindet. Bestückt mit Barockem und Heutigem entsteht ein tiefer und unübersichtlicher Raum, der durch Spiel und Bewegung sowie das sehr klare, manchmal fast gleißende Lichtkonzept von Dirk Sarach-Craig immer wieder neue Konturen erhält. Die wiederum werden variiert und in Frage gestellt durch die Barock und Gegenwart geradezu visionär miteinander verschneidenden Kostüme von Raphael Jacobs. In diesem Umfeld zusammenstimmender und gleichzeitig eng an die Stückvorlage anschließender Komponenten kann Ludger Engels den Streit zwischen Schönheit und Vergnügen auf der einen, Zeit und Ernüchterung (oder Enttäuschung oder Abgeklärtheit) auf der anderen Seite entspannt erzählen.
Zwei Frauen und zwei Männer machen Selfies, sammeln Likes, checken permanent ihr Standing in der großen weiten Social-Web-Welt, delektieren sich an der freien Entfaltung ihrer Individualiät, fernab jeder Form von Verantwortung. Ein Streit entsteht, Opfer seiner Austragung ist Bellezza, die Schönheit, die in eine Identitätskrise stürzt und schließlich ihre Niederlage eingesteht als, sehr katholischer Rest, Bekenntnis zur Wahrheit. Die drei anderen ändern ihre Haltung die ganze Zeit nicht. Und am Ende kehren alle vier zu ihren Smartphones zurück. Was sich dort ereignet, kann man über den ganzen Abend auf vier Bildschirmen verfolgen. Auch die Bildübertragung respektive die Vorspiegelung einer solchen klappt großartig.
Die vier Sänger, drei Ensemblemitglieder und ein Gast, drei junge Menschen und ein Opernveteran und Gesangsprofessor erweisen sich schlicht als ein für dieses Stück perfektes Team. Suzanne Jerosme ist die Schönheit, ihre Innigkeit, ihre schnellen Koloraturen nehmen genauso gefangen wie ihr prickelndes Tete-à-Tete mit einem Statisten. Fanny Lustaud, schlank, elegant, cool als Vergnügen kann mit ihrem schlackenlos geführten Mezzo kapriziös tändeln, in Wut ausbrechen und auch das melancholische „Lascia la spina“, die gesungene Urform von Händels größtem „Hit“, mit glühendem Leben füllen. Patricio Arroyo als Zeit beeindruckt mit grandiosem Timing und der Fähigkeit, Klang und Wort der italienischen Sprache feinste Nuancen abzugewinnen. Schließlich der junge Countertenor Cameron Shahbazi als Disinganno: da ist eine Weltkarriere zu riechen. Charme, Bühnenpräsenz, unglaubliches Farbspektrum, ungeheurer Schmelz in der Mittellage, augenzwinkerndes, stets inhaltlich begründbares Umkippen in die Bruststimme in der Tiefe, eine große Entdeckung des Aachener Theaters. Und alle vier spielen großartig, auch und gerade mit dem Körper. Eine derart entfesselte Tanzszene wie in der Mitte des ersten Teils gemeinsam mit einem Breakdancer war selten auf der Opernbühne.
Das Sinfonieorchester Aachen spielt auf alten Instrumenten. Und kann das hervorragend, angeleitet von Justus Thorau, der unter anderem bei Reinhard Goebel gelernt hat. Und vor allem durch eine entspannte, nuancierte Tempodramaturgie mitreißt. Der Klang wird geprägt durch Musiker wie den großartigen Alte-Musik-Spezialisten Klaus Mader an der Laute und Stéphane Egeling, den Solo-Oboisten des Hauses, der für ein großartiges Duett mit Suzanne Jerozme sogar den Laufsteg entert.
Es soll hier nicht behauptet werden, dass all das perfekt sei. Natürlich verrutscht mal eine Intonation oder eine Koloratur in Gesang und Instrumentarium. Und dennoch stimmt alles zusammen, schwingt frei, birst vor Lebensenergie.
Ludger Engels hat mehrfach formuliert, was Theater für ihn ist: eine soziale Skulptur. Seine oft Sparten übergreifenden Arbeiten sind nie langweilig, immer innovativ, immer auf der Suche. Manchmal fehlt es ihnen an Sinnlichkeit, verlieren sie sich in dokumentaristischen Gegenwartsbezügen. Hier führen die gedankliche Tiefe und die inhaltliche Stringenz zur Freisetzung eines nicht einmal schwächenlosen Stücks. Obwohl Engels nur kosmetisch in die musikalischen Originalabläufe eingreift, wirkt jeder Moment aktuell, scharf beobachtet und spontan erfunden. „Es ist ein Lernprozess, Sensibilität füreinander zu gewinnen und voneinander zu lernen“, beschreibt der Regisseur die Entwicklung seiner Figuren im Programmheft. Und zeigt genau das. So verleiht die Magie der an diesem Premierenabend das Theater erobernden Empathie der ins Schwarze treffenden Gesellschaftsbeschreibung sogar eine optimistische Richtung.