Foto: "Das Himbeerreich" am Staatstheater Nürnberg. Jochen Kuhl, Josephine Köhler © Marion Bührle
Text:Dieter Stoll, am 28. Oktober 2013
Letztlich ging es bei dieser Nürnberger Premiere um die Rettung einer enttäuschten Hoffnung: Ehe der vielfach preisgekrönte Filmemacher Andreas Veiel sein Doku-Drama zur aktuellen Weltwirtschaftskrise persönlich (für Stuttgart und Berlin) auf die Bühne brachte, wurde das Projekt mit dem von Gudrun Ensslins Spottbegriff geborgten Titel „Das Himbeerreich“ als eine der wichtigsten Premieren des Jahres gehandelt. Auf gut 1500 Seiten hatte der Autor protokolliert, was ihm 25 ehemalige, gefeuerte oder am innerbetrieblichen Abstellgleis amtierende Banker von der Leitungsebene der Finanzinstitute über ihr zwielichtiges Gewerbe anonym anvertrauten. Enthüllungsjournalismus als Kunst-Ereignis, warum auch nicht! Das Ergebnis blieb jedoch weit hinter den Erkenntnis-Erwartungen zurück, die Uraufführung fiel bei der Kritik überwiegend durch – das fette Guthaben einer fassungslos wahrgenommenen dramatischen Entwicklung hatte Theater-Zinsen abgeworfen, die der Höhe derzeitiger Tagesgeld-Angebote verflucht nahe sind. Zumindest konnte man also bilanzieren, dass die zeitgenössische Dramatik nicht zu den Krisengewinnlern gehört.
In der „Provinz“ lässt man sich davon offenbar nicht einschüchtern, nach Kassel und vor Freiburg und Kiel griff das Nürnberger Schauspiel beherzt nach dem sperrigen Text – oder doch eher nach dessen Aura von Aktualität. Weil vor Ort mit Urs Widmers „Top Dogs“ und Elfriede Jelineks „Kontrakte des Kaufmanns“ schon mindestens zwei Satiren zum Thema höchst erfolgreich auf dem Spielplan standen, die Latte also ziemlich hoch lag, wollte Regisseurin Petra Luisa Meyer die absolutionsfreien Beichtprotokolle der Täter gleich etwas aufrüsten. In ihrer energisch auf knallharte Zusammenstöße hingelenkten Fassung tritt als allegorische Figur mit Zwischenruf-Funktion zusätzlich ein Wesen auf, das man in diesem Zusammenhang nun wirklich als Mittelpunktfigur betrachten darf: Josephine Köhler ist mit Dollar- und Euro-Tattoos auf den Oberarmen und einem einleitenden Katzenberger- Kichern in der Kehle schlichtweg „Das Geld“. Mit ihr zieht, als wär`s eine nachvollziehbare Misstrauenserklärung gegen die radikal von 1500 auf 40 Seiten destillierte Faktensammlung, John Lanchesters Finanz-History „Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt“ per Kostpröbchen als Querschlag-Satire ein. Nürnbergs Aufführung hat ganz klar den löblichen Ehrgeiz, Papier zu erwecken.
Stefan Brandtmayrs Bühne streckt über mehrere kantige Nobel-Etagen ein Party-Gehäuse für Neureiche, wo die Skandal-Akteure ihren Zynismus mit Champagner behandeln und später ihren Sturz im steilen Treppenhaus der Macht auch in Zeitlupe nachkosten können. Die Regie, die zu Beginn gleich Heinos „Ärzte“-Travestie („Wie du wieder aussiehst“) als Rundgesang mit gleitendem Übergang in Weihnachts-Evergreens zur Bonus-Runde der Banker kurzschließt, hat da längst die Tonlage bestimmt – man schreit sich meistens an, im Guten wie im Bösen. Aus den Monolog-Schnipseln wird eine zweistündige Behauptung von Attacken-Dialogen, die aus Musical-Mikroports wie verfremdete Zitate abgeschossen werden. Aus der Beschwörung explodierender Zahlen und geplatzter Blasen, unterfüttert von menschelnden Hinwiesen auf Schnäppchen-Käufe oder Prostata-Beschwerden, steigt der Wille zur Charakter-Suche auf wie eine Drohne im Nebel. Daraus entstehen berührende Momente, wenn Michael Hochstrasser mit Ansatz zu heiligem Zorn im Trüben nach der Würde fischt, Jochen Kuhl als Senior-Banker am Status klammert, Frank Damerius den Chauffeur mit dem Volksempfinden andeutet oder Nicola Lembach die taffe Karrieristin hemmungslos über die Krise hinweg ins neue Betrugssystem lenkt. Am Grundproblem ändert es nichts, denn während Regisseurin Petra Luisa Meyer für ihre Schablonen-Collage in jeder Szene nach komödiantischen Schraubverschlüssen sucht (am Ende verkleiden sich gestürzte Bankvorstände wegen des vermuteten Volkszorns mit Sombrero und singen Rex Gildos „Fiesta Mexikana“) und ein gesamtgesellschaftliches Achselzucken im finalen Blackout versinken lässt, kommt der Zuschauer auf verwegene Ideen. Etwa, dass das Gegenwartstheater im direkten Wettbewerb mit dem ARD-Brennpunkt wohl doch nicht triumphieren kann.
Das Publikum nahm den Abend als Bestätigung für alles, was man auch vorher wusste – und applaudierte dem soliden Handwerk der Nürnberger Schauspieler.