Foto: Der „Babylon“-Flughafen, bevölkert vom Chor des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden © Karl und Monika Forster
Text:Bernd Zegowitz, am 2. Mai 2022
Babylon kann Berlin sein. Spätestens seit der Erfolgsserie „Babylon Berlin“ werden beide Städte in gleichem Atemzug genannt und bereits Franz Biberkopf erliegt im 1929 veröffentlichten Roman „Berlin Alexanderplatz“ von Alfred Döblin den Verlockungen der Berliner Unterwelt, verfällt der „Hure Babylon“. Babylon muss aber nicht Berlin, nicht mal ein genau zu lokalisierender Ort sein. Bereits in der Uraufführung der Oper „Babylon“ von Jörg Widmann in einer bunten, bildgewaltigen Inszenierung von Carlus Padrissa an der Bayerischen Staatsoper im Jahr 2012 war die Stadt nur schwer in Mesopotamien zu verorten und auch Andreas Kriegenburg wollte sich 2019 an der Berliner Staatsoper nicht festlegen und ließ die Handlung in einem höhlenartig ausgebauten Untergrund spielen. Nun hat Daniela Kerck das Stück zur Eröffnung der Wiesbadener Maifestspiele neu inszeniert, ins Hier und Jetzt verlegt und auch sonst behutsam konkretisiert.
Transit Babylon
Für die Regisseurin und Bühnenbildnerin ist Babylon ein großer internationaler Flughafen, auf dem die unterschiedlichsten Menschen und Kulturen aufeinandertreffen, so dass hier eine natürliche Sprachverwirrung herrscht. Fest verortet ist an diesem transitorischen Ort niemand, weder die babylonischen Feierbiester noch die jüdischen Exilanten und auch nicht Tammu, der Grenzgänger zwischen den Kulturen. Der ist hin- und hergerissen zwischen seiner Liebe zur babylonischen Priesterin Inanna und seiner Freundin, der Seele. Das Libretto von Peter Sloterdijk, das mindestens 300 Jahre Operngeschichte von Orpheus bis Carmen aufbereitet – aber nicht nur dadurch schwer verdaulich ist –, lässt Raum für diese Liebesgeschichte, aber ebenso für kulturgeschichtliche Tiefenbohrungen, mit denen Komponist und Librettist ein Zeitalter, das der Babylonier eben, besichtigen und als Schmelztiegel der Kulturen rehabilitieren wollen.
Kerck holt das Stück radikal in die Gegenwart, ohne die mythologischen Dimensionen aufzugeben. Der Flughafen, liebevoll rekonstruiert durch Videos von Astrid Steiner, wird durch eine Tsunamiwelle – der Euphrat tritt über die Ufer – zerstört. Einer der Überlebenden, der Priesterkönig, erklärt sich zum neuen Beschützer und bestimmt ein Menschenopfer, um zukünftige Naturkatastrophen zu vermeiden. Während die Juden die Rechtmäßigkeit des Opfers verhandeln, die anderen ihr Überleben feiern, wird Tammu als zu Opfernder ausgewählt. Die Realität des Handlungsortes Flughafen bleibt zwar erhalten, doch wird sie immer wieder überblendet, angefüllt mit Mythologischem wie der Personifikation des Euphrat oder des Todes. Zudem steigt Inanna in die Unterwelt hinab, um ihren geopferten Geliebten Tammu zurückzuholen. Die Liebe siegt über den Tod, die Menschen bekommen eine zweite Chance, ein riesiger Planet erscheint im Hintergrund. Die Zeit scheint neu geordnet, die Realität zieht wieder in das runderneuerte Flughafengebäude ein, das neusortierte Liebespaar reist ab, die Seele lässt sich trotzdem baumeln. Das ist ein bisschen viel des Guten, wird aber von Kerck abschließend – so viel sei verraten – ironisch gebrochen.
Wiesbaden spielt die sogenannte Berliner Fassung des Stückes, für die Jörg Widmann massiv gekürzt, aber auch neue Teile komponiert hatte. Geblieben sind die für den Komponisten sonst untypischen massiven Klangblöcke, die bis an die Grenzen der erträglichen Lautstärke gehen, sowie eine Vielfalt der Musikstile, die überbordend, orgiastisch, lustvoll kombiniert werden, aber kompositorisch gebändigt sind. Die Polystilistik reicht vom barocken Choral bis zum bayerischen Defiliermarsch, von Purcell bis Lehár, wobei die Musik nie eklektizistisch wirkt, sondern immer kontextuell abgestimmt mit perfekten Übergängen von einer Sprache in die andere. Dabei bleibt Widmann auf dem Boden der Tonalität, schreitet diesen aber bis an die Grenzen der Diatonik aus.
Musikalische Sprachentwirrung
Der Dirigent Albert Horne bringt Ordnung in die musikalische Sprachverwirrung, organisiert das Geschehen, leitet mit großer Übersicht das bis in die Logen verteilte Orchester und den vielfach geteilten Chor. Nicht immer sind die einzelnen Sänger und kleineren Ensembles gut zu hören, was aber wohl an den Widmann‘schen Klangmassen liegt. Michelle Ryan singt die Seele mit wunderbar warmem lyrisch-innigem Sopran, Sarah Traubel die Inanna mit überwältigenden Höhen. Leonardo Ferrandos schöner Tenor geht als Tammu ein wenig unter, während Andrea Bakers Euphrat souverän auf dem Klang schwimmt. Ein schauspielerisches und sängerisches Glanzstück liefert Otto Katzameier als Tod. Erschöpft und gelangweilt vom immer gleichen Sterben, ist er hin und weg von Inanna, girrt und gurrt zu ihren Füßen, verliert die Sprache, stammelt und würgt, dass es eine Lust ist.
Wiesbaden hat ein überzeugendes Plädoyer für Widmanns „Babylon“ abgeliefert, ob das Stück Repertoiretauglichkeit erlangt, bleibt allerdings abzuwarten.
Weitere Vorstellungen: 1./11./19.6./14.7.22