Foto: Schrill und bunt: „Die Walküren” © Joseph Ruben Heicks
Text:Michael Laages, am 17. März 2023
Eine fürchterlichere Familienaufstellung ist kaum auszudenken: mit Papa Wotan, der das Drama um die inzestuösen Zwillingskinder Siegmund und Sieglinde angerichtet hat wie noch vielen anderen Schlamassel mehr und mittlerweile im Rollstuhl durch himmlische Sphären karriolt; mit Mama Fricka, zu Tode gelangweilt von der Welt wie von der Familie, in der sie leben muss und nicht mehr will, immer hungrig und nur noch aufrecht erhalten von der Sehnsucht, einmal zu den allerhöchsten Wesen hinauf zu gelangen, den mythischen Walküren; mit den verlorenen Kindern schließlich, den „Wälsungen“, dazu verdammt, im Inzest Siegfried zu zeugen, das Glücks- und Götterkind. Unfassbar eigentlich, dass ausgerechnet eine derart wirr und überkreuz gestrickte Familien-Bande aufsteigen würde zu allerhöchsten kulturellen Weihen – das war womöglich nur in Deutschland möglich, dem Land, das sich in der späten Selbstvergewisserung als Nation fundamental (und eigentlich völlig unangemessen) in die nordische Sagenwelt verirrte, einen kulturellen Traditionsraum, der mit dem Deutsch-Tum prinzipiell ja gar nichts zu schaffen hatte. Richard Wagner war der Prophet dieser Verirrung, verehrt und verklärt im Nazi-Wahn des vorigen Jahrhunderts, kurz vor „Ragnarök“, vor dem Weltenbrand des Krieges.
Alle Sparten schmieden in Braunschweig den „Ring des Nibelungen”
Aber dieser kleine Prophet aus Dresden hinterließ halt Opern-Musik, wie es sie vorher noch nicht gab – und jedes Theater ist noch heute stolz, wenn es das vierteilige Groß-Werk „Der Ring des Nibelungen“ komplett erarbeiten kann. Das ist derzeit auch in Braunschweig so, allerdings anders als sonst – mit der „Götterdämmerung“ wird der „Ring“ zwar im Juni von der Oper fertig geschmiedet; aber alle Sparten des Hauses sind am Projekt beteiligt. Und Teil des Festivals rund um das Material der Tetralogie ist im Juni auch das jetzt uraufgeführte Auftragswerk der Dramatikerin Caren Erdmuth Jeß, das „Die Walküren“ in den Mittelpunkt der Geschichte rückt – und von dort aus das monströse Geflecht der Fabeln zu durchdringen versucht.
In 12.357 Metern Höhe, auf den Gipfeln eines Gebirges also, das es auf den bekannten Planeten nicht gibt, sitzen die Damen und sehen alle aus wie die brasilianische Pop-Ikone Rita Lee in ihren besten Tagen: knallgelbe Perücken-Haare, silbrige Klamotten und runde Brillen mit rotgefärbtem Glas. Sie warten auf Brünnhilde, die eine von ihnen, aber auch die Lieblingstochter von Obergott Wotan ist – sie ist abendfüllend damit beschäftigt, die Katastrophen zu reparieren, die der Macho-Papa über die Familie verhängt hat. Vor allem will sie dem eigentlich ja nicht geplanten Baby Siegfried ins Leben verhelfen – dessen Zeugung war eher ein Unfall im Affekt; Siegmund und Sieglinde, jetzt Eltern in spe, wussten in dem Moment noch nichts von der Geschwisterschaft. Jetzt bricht Chaos aus – auch und gerade dort, wohin die werdende Mutter Sieglinde von Papa Wotan einst verkuppelt worden war: in die Hütte des Einsiedlers Hunding.
Die Weltesche hängt kopfüber und Nothung ist ein Telegrafenmast
Der bewacht auch in der Jeß-Version Yggdrasil, die „Weltesche“, die der Legende nach alles Leben miteinander verwurzelt, und er passt nicht nur auf, dass Nothung, das magische Schwert, das unverwundbar macht, fest in den Felsen gefügt bleibt – wer es herauszuziehen vermag, wird die Welt beherrschen. Er ist aber noch viel mehr: Im Bild von Hundings Hütte legen Autorin Jeß und Regisseurin Alexandra Holtsch in Braunschweig zunächst und vor allem die markant ironische Grundstimmung vor, die die Aufführung generell durchzieht. Der Weltesche-Baum hängt mit der Krone nach unten im Raum von Sabine Mader (die auch die durchweg mächtig schrägen Kostüme entworfen hat), und in Yggdrasils Zweigen klimperts und klapperts wie im Mobile. Und Nothung, das Schwert, ist tatsächlich ein Telegrafenmast aus lang vergangenen Zeiten. Frisch heraus gezogen, fällt der Mast auch prompt in zwei Teile auseinander; und nun wird mit beiden gekämpft. Auch eine gehörige Portion Jux und Dollerei der eher etwas albernen Sorte gönnt sich diese Phantasie über „Die Walküren“.
Aber die Rollen sind klar verteilt – natürlich liegt das Schicksal der Welt in den Händen dieser Wesen, die Autorin Jeß zwar als „geschlechtslos“ markiert, die aber durchweg weiblich „gelesen“ werden können (auch der eine Mann unter ihnen passt dazu); Brünnhilde, schließlich – nachdem sie Siegfried zur Geburt verholfen hat – vom Vater in den Feuerring verbannt, ist im Stück eindeutig die Frau mit Zukunft. Die „richtigen“ Männer sind derweil entweder mächtig, gewalttätig und verantwortungslos wie Papa Wotan oder waschlappige Würstchen wie Sohn Siegmund. Jeß nutzt Wagners mythisches Material als eine Art Motiv-Steinbruch; wer sich halbwegs auskennt im „Ring“, kommt gut mit. Aber natürlich fügt sie (wie in irgendeinem asozialen Medium) auch eine Art Kommentar-Spalte ein; wenn etwa die Walküren darüber rasönnieren, wie glaubhaft Brünnhildes Erzählung von der Vergewaltigung durch den eigenen Vater tatsächlich ist, oder wenn sie spekulieren, ob der Klimawandel irgendwann vielleicht ja doch mal zu Gebirgen führen könnte, die wirklich 12.357 Meter hoch wären – eher nicht, sagt ihnen jüngste wissenschaftliche Erkenntnis: mehr als 10.000 Meter seien nicht drin.
Mit Klang-Collage und Wagner-Gesang
In solchen Momenten wendet sich der Text angenehm delirant ins Nirgendwo – während Hubert Wild, der spektakuläre Sänger-Schauspieler mit der Fähigkeit zu Tenor- und Kopf-Stimme vom einen Augenblick zu anderen, für die Kommentare zu Richard Wagners wunderlichen Welten sorgt. Im absurdesten Moment agiert er gar als Wagners „Seidenschuh“; bei der Fertigstellung der „Ring“-Tetralogie (erzählt das Programmheft) habe sich Wagner 1866 in Luzern am neuen Wohnsitz tatsächlich auch neu eingekleidet; auch sehr speziell und mit Seide. Vor allem aber stützt Wild die Inszenierung mit originalem Wagner-Gesang; ein feines kleines Ensemble um Burkhard Bauche, filigran arrangiert für Cello und Klavier, Fagott und Posaune, stützt musikalisch mit. Auch Regisseurin Holtsch komponiert ja, sehr atmosphärisch und frei; auf das Finale stürzt dann auch noch eine (nicht so zwingende) Klang-Collage voller Computer-Energie ein.
Maders Szenerie sprengt fast das Kleine Haus in Braunschweig – ein Silbervorhang mit der Höhen-Angabe der Bergwelt drauf gibt immer wieder den Blick frei auf ein stoffbehängte Rhönrad-Konstruktion dahinter. Und das starke Ensemble nimmt alle Spiel-Optionen mutig an: Saskia Taeger und Valentin Fruntke als Wälsung-Geschwister, Saskia Petzold und Georg Mitterstieler als Familien-Oberhäupter Fricka und Wotan, Lina Witte als Brünnhilde, Kämpferin unter den Walküren.
Die schönste Idee, das feinste Fundstück der Autorin im Motiv-Steinbruch nach Wagner, kommt allerdings Hunding zugute, Sieglindes von Wotan zwangsverordnetem und ungeliebten Gatten – der ist im Original eher ein tumber Tor; hier (und bei Klaus Meininger) wird die Figur zum Imker. Und mit den überaus produktiven Bienen kommt eine neue Vision von Leben in diese morsch-marode Götter-Welt – Hunding hegt und pflegt ja nicht nur die Bienenvölker, er nimmt sie schließlich sogar in den eigenen Körper auf; um quasi selber zur lebendigen, überlebensfähigen Wabe zu werden!
So überrascht die Autorin Caren Erdmuth Jeß immer wieder – in Dresden ist „Die Katze Eleonore“ ein Erfolg im Spielplan, zum Heidelberger „Remmidemmi“-Festival am Beginn der Saison steuerte sie den klugen Text „Das Stilleben“ bei. Mit „Die Walküren“ ist sie ein starkes Stück weiter gekommen auf dem Weg zum ganz großen Wurf.