Foto: Benno Ifland als Duende mit den "von den Dingen trunkenen Marionetten", die vom Bremer Damenchor verkörpert und geführt werden. © Jörg Landsberg
Text:Detlef Brandenburg, am 7. Dezember 2015
Eigentlich, so scheint es, ist Piazzollas „María der Buenos Aires“ ja eine sichere Sache: Tango, Leidenschaft, Verruchtheit, Poesie – und all das in einer kleinen Oper, die ihr Schöpfer liebevoll „Operita“ nannte: So was geht immer, oder? Wer genauer hinschaut, sieht allerdings Stolpersteine allenthalben. Schon die Verbindung von Tango und Oper ist heikel. Im gepflegten Auditorium eines vornehmen Opernhauses verkommt die zugleich schwüle und strenge, schmutzige und stilisierte Sinnlichkeit des Tangos schnell zur oberflächlichen Sensation für Voyeure: faszinierend als Objekt des Begaffens, aber nicht der Begierde. Leicht zu besetzen sind die Partien auf die Musik des großen Tango-Nuevo-Komponisten Astor Piazzolla auch nicht gerade. Vor allem aber ist es eine wirkliche Herausforderung, für den dramatisch oft kaum greifbaren lyrischen Surrealismus, den der aus Montevideo stammende Lyriker, Rezitator, Journalist und Tangohistoriker Horacio Ferrer dieser Musik unterlegt hat, eine szenische Lösung zu finden.
Das fängt schon damit an, dass der Erzähler dieser Geschichte ein Geist („El Duende“) ist, dessen Sprachgewalt sich in hochpoetischen Symbolen, Metaphern und Wortmalereien ergießt. Alte Diebe geben sich mit Alten Huren ein Stelldichein, ein Sperling hat eine Menge zu singen und zu prophezeien, Psychoanalytiker treiben ihr Unwesen, und drei „von den Dingen trunkene Marionetten“, unterstützt von einigen Tonengelchen, gehen auf die Suche nach dem Geist der María, die am Ende des ersten Teils gestorben ist und nun, im Finale des zweiten, als Geist ein weibliches Jesuskind gebiert, das vielleicht sogar die wiedergeborene María selbst ist. Denn María ist Unschuld und Hure, Leidende und Liebende, Bestie und Opfer, Gossenluder und Himmelsheilige – mit einem Wort: Sie ist der Tango selbst. Und wie der Tango wird auch sie immer wieder geboren.
Um dieser Phantasmagorie Herr zu werden, hat sich an den Bühnen eine probate Lösung herausgebildet: Man evoziert schummerige Kaschemmen-Atmosphäre, besetzt die drei größeren Partien mit Tango-erfahrenen Gästen, schafft ein paar poetische Symbole herbei, und schon läuft die Sache irgendwie. Das Theater Bremen allerdings hat nun mit Andreas Kriegenburg (Regie), Harald Thor (Bühnenbild) und Andrea Schraad (Kostüme) ein All-Star-Inszenierungsteam für Piazzollas Operita aufgeboten; und die Drei geben sich mit so einem wohlfeilen Irgendwie nicht zufrieden. Die anderen Protagonisten dagegen kommen mehr oder minder aus dem Haus, und auch das ist schon bemerkenswert. Umwerfend ist die María der Bremer Ensemble-Schauspielerin Annemaaike Bakker: Sie singt die Partie mit samtig aufgerautem, mädchenhaft zartem Musical-Mezzo, das klingt in der Mischung aus Unschuld und Finesse auf ganz eigene Weise wunderbar. Und sie legt das sinnliche Luder mit einer Rückhaltlosigkeit auf die Bühne, dass es einem bisweilen den Atem verschlägt.
Aber auch die Besetzung der Tenorpartien des Payador, Gorrión, Ladrón Antiguo Mayor oder des ersten Psychoanalytikers mit dem Bassbariton (!) Patrick Zielke ist ein Coup: Das Singen quasi oberhalb seiner Stimmlage holt ihn (allerdings erst nach einigen noch etwas fest sitzenden Phrasen zu Beginn) aus der gestützten Sicherheit seines Opernfachs heraus, so dass er eine vitale Stimmcharakteristik entwickelt. Auch der Duende von Benno Ifland ist großartig: ein dreckiger saufender alter Mann mit Strähnenmähne, der mit seinen Alkoholdelirien die María heraufbeschwört. Ifland kommt zwar nicht vom Haus, war aber immerhin in den Achtziger Jahren mal Bremer Ensemblemitglied. Und der Dirigent des Abends Rolando Garza Rodríguez trägt zwar einen spanisch klingenden Namen, verdient sein Geld aber ganz bodenständig als Studienleiter am Theater Bremen und leitet das kleine, mitten im Bühnenboden versenkt sitzenden Orchester mit dem großartigen (übrigens tatsächlich aus Buenos Airs stammenden) Bandoneon-Spezialisten Santiago Cimadevilla zu einem rhythmisch vitalen, atmosphärisch gleichwohl subtilen Klang an.
Der Beginn ist ein schöner Coup: Die Bühne mit alten Tango-Plakaten an den Wänden, viel offener Technik oben und an den Seiten, im schummerigen Licht der Blechschirm-Lampen, sie mag eine alte Fabrikhalle sein, in der sich eine Art Tango-Club heutiger Tage versammelt. Ein Paar tanzt einsam vor sich hin, der Duende brabbelt besoffen vor sich hin, der Bandoneonist improvisiert versunken vor sich hin, der Pianist fällt ein, die Atmosphäre des traditionellen Tango weht durch den Saal, Carmens Habanera mischt sich drein, und so wild und lüstern, wie Annemaaike Bakker die María bald darauf spielt, hätten auch ein paar Motive aus Bergs „Lulu“ ganz gut in diesen zart improvisierten Beginn gepasst. Nach und nach aber füllt sich die Halle, zunächst mit Bremer Laien-Tangotänzerinnen und -tänzern, die alten Diebe und Hurenmütter vom Opernchor stoßen dazu, langsam beginnt eine Tango-Session – aber Andreas Kriegenburg wählt jetzt keineswegs die allzu naheliegende Lösung, dass dieser Tango-Club die Operita gleichsam als Spiel im Spiel aufführt. Vielmehr steigt die Geschichte der María als ungezähmtes Urbild des gesitteten Tangoclub-Treibens aus diesem auf wie ein Geist, ein wilder Vorfahr des gezähmten „Gesellschaftstanzes“.
Das gibt dem Regisseur Gelegenheit zu ironisch kommentierenden Pointen, zum Beispiel wenn er das Allegro tangabile im zweiten Teil als eine Art wirrer Tanzstunden-Sitzordnung mit hektischer Partnerwahl zeigt, deren abgezirkeltes Treiben der ursprünglichen Gossen-Verruchtheit des Tangos Hohn spricht. Gerade vor dem Hintergrund dieser brav tanzenden Bürgerlichkeit wirkt Bakkers María um so mehr wie eine Art Latino-Lulu, deren Sinnlichkeit etwas aggressiv Zersetzendes hat. Kriegenburg erzählt die Geschichte im Großen und Ganzen nach, oft mit bis zur Karikatur überzeichneten Figuren und Handlungsabläufen. Dadurch, dass Patrick Zielke alle Männerfiguren spielt und, im gleichen Anzug wie der alte Duende, dessen jüngerer Vorgänger sein könnte, fokussiert er sie aber stark auf das Verhältnis zwischen dem Erzähler-Geist und María: Vielleicht ist María auch nur in den von Tango und Alkohol befeuerten Phantasien dieses gealterten Gossenbosses unsterblich. Solche Assoziationen lässt Kriegenburg in der Schwebe, so wie auch Ferrers Sprache über allen konkreten Bedeutungen dahinzuschweben scheint. Aber er bietet viele schöne Bilder und viele Szenen in seiner typischen choreographischen Personenführung, die zu Assoziationen einladen. Man glaubt zu spüren, dass der Regisseur selbst passionierter Tangotänzer ist – hat es aber natürlich zuvor bereits belesen. Das Publikum jubelte.