Foto: Michaela Schuster in "Frau ohne Schatten" am Festspielhaus Baden-Baden © Martin Sigmund
Text:Joachim Lange, am 2. April 2023
Für den großen Festspielauftritt in Baden-Baden ist „Die Frau ohne Schatten“ eine heisse Kandidatin. Und so lange Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker quasi den Maschinenraum des Festspielhaustankers mit Bahnhofsfoyer am Laufen halten, gibt es keinen Grund, die Osterfestspiel-Konkurrenz in Salzburg – noch dazu mit einem „Tannhäuser“, der aus München importiert wurde – zu fürchten. Petrenko hatte seine Münchner Ära vor zehn Jahren mit dem Opernmonstrum von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal begonnen. Auch in Baden-Baden ist der Orchesterpart sensationell geglückt. Beindrucken die ersten dumpfen Schläge im Graben noch mit ihrer Wucht, so ist fortan das subtile Ausleuchten der Feinheiten, das Aufblühen des Raffinements der Partitur angesagt. Mit betörenden, gleichwohl den Raum füllenden Streichersoli in den kammermusikalischen Passagen, den immer wieder auftauchenden melodischen Bögen, dem entfesselten Chaos, mit dem Strauss womöglich der Prügelfuge aus den „Meistersingern“ nacheiferte.
Die übrigens waren hier vor allem in ihrer weiblichen Ausprägung auch beisammen. Allen voran überstrahlte Elza van den Heever als Kaiserin jede Tristesse. Sie kann leise ansetzen und dann ihre Stimme scheinbar mühelos betörend aufblühen lassen und in den Bann ziehen. In Baden-Baden ist sie obendrein wie ein Revue-Star aus Ufa-Zeiten in Szene gesetzt. Das verleiht ihrem Auftritt als eher tanzende Frau mit Besen, denn als Putzfrau bei Barak daheim, szenischen Witz. Ihrer Lösung aus dem Bannkreis der Amme verschafft das in der Fallhöhe Glaubwürdigkeit.
Nicht minder eindrucksvoll hat sich Miina-Liisa Värelä als Baraks Frau profiliert. Sie hat die frustrierte, mit sich, ihrem Mann und dem Leben unzufriedene Frau wirklich singend gestaltet, ohne ins Keifen abzugleiten. Sie schafft es spät, aber nicht zu spät, dieser Figur auch ein Quantum Mitgefühl zu sichern. Als die Anwältin der Übermächte, die sie am Werke wähnt, ist auch Michaela Schuster eine darstellerische und alle Facetten dieser dubiosen Gestalt vokal ausschreitende Amme. Wolfgang Koch hat in der Rolle des Barak dessen Güte auf seiner Seite, jede Menge Sängererfahrung und eine dazu passende vokale Gestaltungskraft. Clay Hilley als Kaiser glänzt mit dem Nachweis schöner Trompetentöne und guter Kondition, bleibt aber als Kaiser doch etwas zu grob, um mit großen Bögen wirklich zu verführen. Alles in Allem ist Baden-Baden mit der Eröffnungsproduktion ein musikalisches Großereignis gelungen.
Von Mädchen und Müttern
Die Regisseurin Lydia Steyer hat sich der Herausforderung, der vertrackten Geschichte beizukommen, mit einem originellen Zugriff gestellt. Sie betrachtet das assoziativ mit Symbolen ausgestattete Umkreisen der Frage nach der Rolle von Mutterschaft für die „Vollwertigkeit“ einer Frau aus der Perspektive eines jungen Mädchens. Das ist, offenbar ungewollt und außerhalb der Regeln eines auf den katholischen Sexual-Moral-Punkt gebrachten Patriarchats, schwanger geworden und daraufhin in einem Kloster untergebracht. Dort werden diese „Ausrutscher“ gleichsam „entsorgt“. In einem Schlafsaal mit vielen anderen, wird sie von Alpträumen geplagt. Diese zusätzliche Figur, die die Regisseurin „Ein Mädchen“ nennt und die Vivien Harter eindrucksvoll verkörpert, steht gleichsam für die „Opfer“ einer vor-emanzipatorischen Sexualmoral, die eigentlich ein eklatanter Fall von Euphemismus ist.
Ihre szenische Anwesenheit ist oft eine personifizierte Wunschprojektion der vier kinderlosen (sprich schattenlosen) Frauen und Männer. Mit ihr im Mittelpunkt gelingt Lydia Steier am Ende, jenseits der großen Pink-Orgie bei Baraks, den durchs Bild gleitenden religiösen Bildern und des mehrfachen Wechsels vom Klosterschlafsaal zur großen Revuetreppe für den Showauftritt von Kaiser und Kaiserin, ein starkes Schlussbild. Dieses Mädchen gräbt in einem Lichtspott auf leerer Bühne mit bloßen Händen in aufgeschütteten Erdhaufen. Man darf vermuten, dass sie nun die Hoffnung aufgegeben hat, das Kind, das man ihr weggenommen und an ein solventes kinderloses Paar gegeben hat, die das gespenstische Kloster immer wieder aufsuchen. Sie sucht statt dessen nach der Leiche ihres Kindes. Mit dieser eskalierenden Verzweiflung unterläuft Steier das Finale mit dem die beiden jetzt miteinander vereinten Paare ihren künftigen Kindersegen bejubeln. Und man kommt nicht umhin, nachzurechnen. Die Kinder, die im Uraufführungsjahr 1919, ein Jahr nach dem ersten großen Krieg geboren wurden, waren bei Ausbruch des nächsten um die 20 Jahre. Also im lebensgefährlichsten Alter, in dem man in diesen Jahren sein konnte.
Die nachvollziehbare Schlüssigkeit einer erfundenen Welt, wie im „Rosenkavalier“ erreichten Strauss und Hofmannsthal mit der „Frau ohne Schaffen“ nicht. Es bleibt ein Monstrum, bei dem weder der Versuch szenisch auf Stringenz zu setzten, noch ein mehr schlaglichtartiges Aufbereiten der rumorenden Traumata vor allem von Frauen als potenziellen Müttern, wie es Lydia Steier nun mit einigem Erfolg versucht hat, der Geschichte letztlich wirklich beikommen. Für die Liebhaber von Richard-Strauss-Musik braucht es gleichwohl keinerlei Begründung, um sich in dieses Werk zu versenken, noch dazu, wenn es musikalisch in einem Premiumformat à la Petrenko erklingt, wie im Frühling 2023, in Baden-Baden..