Der Einstieg ist bahnbrechend und in seiner konsequenten Fortführung bis zum Schluss schwierig zugleich, da sich im Verlauf des Stücks der eigentliche Handlungsstrang selten wirklich konkretisiert. Der Betrachter muss für sich entscheiden, was die bestechende Passage bedeutet, in der sich Männer seitlich zu Boden legen und ihre Füße gleich einem Fischschwanz überkreuzen. Immer wieder verschwimmt auf derartige Art und Weise die Identität der Rollenträger in der Abstraktion, verlieren sich die beiden Hauptfiguren – Undine und David Valencia als der Mann ihrer Träume – im Ensemblegefüge, im Über- und Durcheinandergreifen der Kosmen Wasser und Land.
Die Begeisterung für Wasserfrauen – Nixen, Wassernymphen oder Seejungfrauen – ist jahrhundertealt. Autoren wie Friedrich de la Motte Fouqué, Hans Christian Andersen und sogar Oscar Wilde haben Geschichten über sie geschrieben. Über die Gefahren des Sich-Verlierens unter fremden Lebensbedingungen und die Unmöglichkeit des Zueinanderfindens. Insbesondere seit der Romantik begegnen wir diesen weiblichen, jungfräulichen Wassergeistern auch auf dem Theater, in zahlreichen Opern, Balletten und Filmen. Der sagenhafte Stoff mit meist fatalem Ende wäre somit ziemlich bekannt.
Halbgöttliche Elementargeister wie die Undinen werden zu Spiegelungen strahlender und dunkler Seelenfarben des Menschen. Ein thematischer Aspekt, der sich visuell sozusagen eins-zu-eins haptisch in einem Wald aus hängenden Plexiglasscheiben in Heiko Pfützners Bühnenbild umgesetzt findet, in dem doch auch so etwas wie eine (in sich) verkehrte Welt mitschwingt. Während nämlich Schreiners Wasserwesen ohne die durchsichtigen, zeitweise wundersame Lichtspiele in den Raum reflektierenden Wände auskommen, lässt der Choreograf sein irdisches Volk – erst eine Gruppe Männer, dann, etwas sprunghafter und quirliger die der Frauen – durch die mobilen Kammern voneinander abgetrennt tanzen. Ganz so, als würde seine Undine-Interpretin Amelie Lambrichts Fremde in kleinen Aquarien beobachten – erst einmal bloß fasziniert, den Rücken zum Publikum gewandt in einem bläulich schimmernden Kapuzenrockgewand regelrecht im vorderen Rampenareal der Bühne festgebannt.
Schreiners „Undine“ ist eine sehr lyrische Tanzfassung geworden. Eine überraschend introspektive Sinfonie getanzter Lebensmuster von pausenlosen 80 Minuten, die komplett von der live im Orchester gespielten Musik getragen wird. Dank Mahlers feiner Eindringlichkeit quer durch unterschiedlichste Empfindungsebenen hinweg wird man angefixt, gedanklich frei zu assoziieren und kann so gleichzeitig dem spielerischen Treiben der Tänzerinnen und Tänzer des Staatstheaters am Gärtnerplatztheater verbunden bleiben. Einer Crew, die trotz bewusst inhaltlicher Diffusität ausdrucksstark rüberkommt und immer wieder gerade aufgrund flüchtiger situativer Momente zu fesseln vermag. Hilfreich sind die Kostüme dabei allemal. Entworfen von Caroline Czaloun-Moore wirken sie nicht nur ansprechend, sondern dienen auch dazu, die Tänzer und ihr Verhalten im steten Fließen und Strömen der Choreografie zu verorten sowie bestimmte Stimmungen im Wechsel der farblich changierenden Lichteinstellungen zu verstärken. Selten gelingt das so rund.
Dass Undines Name die Bedeutung „Welle“ in sich trägt, muss Karl Alfred Schreiner leitmotivisch bei den Bewegungsfindungen für seinen neuen Ballettabend inspiriert haben. Ihn jetzt – nach mehrfacher Verschiebung – tatsächlich live im zum Drittel gefüllten Gärtnerplatztheater erleben zu können, ist eine Wohltat. Anregend für Augen und Ohren.