Foto: Neue und sehenswerte Version von Samuel Penderbayne: "Die Schneekönigin" in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin. © Thomas Aurin
Text:Klaus Kalchschmid, am 23. November 2019
Auch wenn sie am Ende mit ihrer extravaganten Krone im gigantisch silber-glitzernden Reifrock fast die Decke berührt, hat die Schneekönigin an ihrem Synthesizer doch keine Macht mehr über den verzauberten Kay, dem einst ein Splitter in Aug‘ und Herz alles in der Welt böse und fad erscheinen ließ, selbst seine beste Freundin Gerda, und er sich so von der eisigen Macht hat verführen lassen. Doch seine Sandkastenfreundin gibt nicht auf und sucht ihn auf der ganzen Welt, bis sie ihn gefunden hat, stößt dabei auf Verkörperungen der bösen Herrscherin des Eises als Blumen- und Räuberkönigin inmitten zwielichtiger, aber lustiger Gesellen und auf Prinz und Prinzessin, die sich selbst genug sind in all ihrem Reichtum. Sie findet unter den Räubern aber auch eine Freundin, die sie in ihrer Reise bestärkt, und das Prinzenpaar hilft ihr denn gar mit einer Kutsche.
Komponist Samuel Penderbayne, Autor Christian Schönfelder, Regisseurin Brigitte Dethier und Ausstatterin Carolin Mittler, die aus Sperrholzplatten, faltbaren Bäumen und ein paar Neonröhren ein wunderbar schlichtes Bühnenbild wie eine riesige Schachtel entworfen hat sowie prächtige, witzige Kostüme, zaubern mit einfachen, aber wirkungsvollen und poetischen Mitteln ein feines Musiktheater für Kinder und Erwachsene ab acht Jahren in die Tischlerei der Deutschen Oper. Es strafft Andersens Märchen radikal und holt es auf vielfältige Weise ins Heute, nicht zuletzt sprachlich, während die fast durchweg tonale Musik Zeitgenössisches nur streift. Elemente von Schauspiel, Musical und Oper wechseln sich ab und durchdringen sich, als ob Penderbayne eine Synthese der mehr als ein Dutzend meist als Kinderoper oder -musical bearbeiteten Versionen des Stoffs für die Musiktheaterbühne im Sinne hätte.
In 70 Minuten klingt alles ebenso durchsichtig wie pointiert und manchmal fast improvisiert, weil gerade mal fünf Musikerinnen und Musiker auch als Darsteller von Tieren agieren, so Tubist Jack Adler-McKean als wunderbar melodisch und aufgekratzt röhrendes Rentier namens Bo, das Gerda zur Schneekönigin nach Lappland führt. Klarinettistin Jone Bolibar Núnez kann als Krähe auch herrlich krächzen und Cellistin Louise Leverd ist mit allerlei Glissandi eine redselige, aber verhuschte Taube. Henriette Zahn am Klavier blüht als Blume und Daniel Eichholz schließlich trommelt als Schlagzeuger nicht nur auf eine Mülltonne entfesselt ein.
Für all das braucht es keine Noten und keinen Dirigenten, aber eben vielseitige Musiker und vor allem Sängerinnen und Sänger, die nicht zuletzt gut sprechen können wie Larissa Wäspy als Gerda, Martin Gerke als Kay, der auch unter den Räubern sich versteckt, Alexandra Ionis als Prinzessin, Räubertochter und Lappin, Hanna Plaß als Schnee-, Blumen- und Räuberkönigin.
Und wenn am Ende nicht wie im Original die Tränen Gerdas das zu Eis erstarrte Herz Kays schmelzen lassen und den Splitter aus seinem Auge waschen, sondern seine eigenen Lachtränen, dann ist auch das eine zarte, aber durchaus sinnige Änderung dieser neuen Version von Andersens vielschichtigem Kunstmärchen, das hier auf seinen Kern reduziert ist, sich aber als charmantes Musik-Theater-Spiel entfaltet.