Foto: „Violetter Schnee” an der Staatsoper Unter den Linden: Anna Prohaska (Silvia), Martina Gedeck (Tanja) und Ensemble © Monika Rittershaus
Text:Joachim Lange, am 15. Januar 2019
Eine hochkarätige Uraufführung fehlte dem Intendanten der Lindenoper Matthias Schulz nach der Wiedereröffnung seines Hauses am 3. Oktober vorigen Jahres noch. Passend zur Wetterlage im deutschen Süden und in Österreich (und zur Brueghel Groß-Ausstellung in Wien…) ging jetzt Beat Furrers „Violetter Schnee“ auf die Bretter der hauptstädtischen Nobelbühne hernieder.
Die Staatsoper hatte den Auftrag an den Schweizer Ernst-von-Siemens Musikpreisträger zur Komposition seiner achten Oper erteilt. Selbstverständlich mit der Staatskapelle im Graben und dem renommierten Komponisten Matthias Pintscher als Dirigenten am Pult. Mit Martina Gedeck in der Sprechrolle der Tanja, mit Anna Prohaska (Silvia) und Georg Nigl (Peter), mit Elsa Dreißig (Natascha) und Gyula Orendt (Jan) und mit Otto Katzameier als Jacques. Dazu das Vocalconsort Berlin für die Chorpassagen. Allesamt machen ihre Sache großartig. Das Libretto stammt wie schon das zu Furrers „Wüstenbuch“ (2010) vom österreichischen Dramatiker Händl Klaus und basiert auf einer Erzählung des russischen Schriftstellers Vladimir Sorokin. Zunächst führt es in Pieter Brueghels „Die Jäger im Schnee“, eine scheinbare Idylle. Martina Gedecks gesprochener Text spürt jedoch allen Anzeichen einer drohenden Apokalypse nach. Sie wandert durch dieses Bild, scheint ihm zu entsteigen, wirkt gehetzt, wenn sie es beschreibt, so dass die Betonung der Silben ein Eigenleben führen, Bedrohliches evozieren. Auf dem Gazevorhang wandelt sich dazu verschwimmend unscharfes Grau zur Projektion von Breughels berühmten Winterbild.
Von da geht es direkt in einen Ausnahme- oder Katastrophenzustand. Fünf Menschen sind eingeschneit. Was natürlich weit mehr als das Ergebnis eines Wetterphänomens ist. Es ist wie in Dürrenmatts Tunnel: Kein Ende ist absehbar. Gewissheiten schwinden. Rein äußerlich sind die Figuren eingeschlossen in einem Raum. Vorräte werden knapp. Die einen sind eher ängstlich und pessimistisch. Andere versuchen, mit der sich diffus abzeichnenden Katastrophe umzugehen. Man verheizt schon Möbel, um nicht zu erfrieren, hofft auf rettende Hubschrauber, findet sich aber auch nach dem Aufstieg über Treppen an der Wand nur auf einer postapokalyptischen Oberfläche wieder. Mit kalter Peitschenleuchte, flackernden Feuern und frierenden Menschen. Es ist, als ob die Zeit stillsteht, gar rückwärts läuft oder sich als erstes auflöst, wenn alles zu Ende geht: Gestalten aus dem Breughel-Bild schreiten mitten durch die Menschen von heute, die selbst immer mehr zum bloßen Schatten ihrer selbst werden. Jacques wiederum steht dem Phänomen, von dem alle betroffen sind, wie dem großen „Nichts“, mit wissenschaftlicher Distanz gegenüber, hat gar eine Arie über die schwarzen Löcher zwischen dem Schnee….
Furrers Musik ist suggestiv wie immer, wirkt über ihre leichten Verschiebungen und Transformationen, vermag bis an die Grenze der Stille, des Nichts und der Sprachlosigkeit zu gehen. Sie besticht durch ihr Pulsen und ihre Klangflächen, die immer wieder geradezu explodieren. Das hat Momente von betörender Schönheit und lähmender Verlangsamung. Versetzt den Zuschauer in einen Zustand, der den Blick nach innen öffnet. Bei einem Regisseur wie Claus Guth bestand nicht die Gefahr, dass er die Novität mit modischem Inszenierungsunfug irgendwie lädierten würde. Er und sein Team (Bühne: Étienne Pluss, Kostüme: Ursula Kudrna, Video: Olaf Freese) erwiesen sich, ganz im Gegenteil, als Uraufführungsglücksfall. Sie produzieren durchweg hochästhetische, atmosphärische Bilder, die die Kälte ebenso imaginieren wie eine um sich greifende Rat- und Sprachlosigkeit. Sie spielen mit Erinnerung und Visionen und hauchen so Furrers Musik optisch Leben ein, ohne ihr und dem kraftvoll auf seiner poetischen Eigenständigkeit bestehenden Text alle Geheimnisse zu entreißen.
Wenn nach hundert Minuten eine eiskalte Sonne am dunklen Himmel erscheint, braucht es den vorgesehenen violetten Schnee gar nicht mehr. Das Bild erinnert an Lars von Triers „Melancholia“ und den mit der Erde kollidierenden Mond. Der Däne hat sich für sein cineastisches Weltenende bei Wagner bedient. Furrer macht sich den Klang dazu selbst. Das Ganze ist eine Melange aus Kammerspiel, Innenschau und Untergangsvision. Es ist ein Werk, das auf eine gefühlte Diagnose in diffusen Zeiten setzt. Dass es keine orientierende Therapie bietet, kann man Händl Klaus und Beat Furrer schwerlich vorwerfen.