Foto: Der Clown, das Rad, das Reh und der Mond... Der einsame Titelheld (Raymond Sepe) in der Schlusszene des wilden "Don Carlos" - Experiments des Landesjugendorchesters NRW © Lars Heidrich
Text:Andreas Falentin, am 31. August 2018
Wildes Opernexperiment, als Ganzes gescheitert, in vielen Momenten eindrucksvoll – eine tolle Visitenkarte für das Landesjugendorchester NRW
Es ist ein großer Abend für das Landesjugendorchester NRW. Die Wiedergabe von Verdis vielleicht komplexester Orchesterpartitur hat, koordiniert und befeuert von Sebastian Tewinkel, mindestens professionelles Niveau. Und die Potenziale, die die 14 bis 19-jährigen Musikerinnen und Musiker erkennen lassen, begeistern, sei es durch den bemerkenswert homogenen Streicherklang oder präzise solistische Einsätze mit viel Klangphantasie, besonders gut hörbar in den Flöten und beim tiefen Blech. Dass der Klang dennoch gelegentlich etwas spröde wirkt, mag der nicht zu elaborierten Tempodramaturgie genauso geschuldet sein wie der unausgewogenen Klangbalance in den Gesangsensembles, zumal im ersten Teil. Auch die Platzierung des Orchesters im hinteren linken Teil der Bühne des Lüdenscheider Kulturhauses macht, zumindest aus akustischen Gründen, nicht vollkommen glücklich.
Diese Bühne wird durchgängig von einem Vollmond (Achtung, Romantik?) beschienen. Birgit Angele hat sie mit zwei Elementen bestückt, einem wonnigen Rehkitz, das mit den Augen zwinkern, weinen und eine Pappnase tragen kann und einem blutübergossenen hölzernen Panzer. Wird hier ein dialektisches Spannungsverhältnis gesetzt, etwas wie aggressive Erotik contra schüchterne Waldeinsamkeit oder Gemeinschaftsterror contra individuelle Ungebundenheit? Auf jeden Fall lässt sich aus dem Panzer spektakulär auftreten und sein Inneres ist Carlos‘ Gefängnis genauso wie das Schlafgemach des Königs, beides jeweils projiziert auf das dafür entfärbte Reh.
Gab es so einen König Philipp schon mal in Verdis „Don Carlos“? Jung, kraftstrotzend, ein Frauenverschlinger in schwarzem Leder, dabei innerlich gelähmt durch die Angst um den eigenen Herrscherstatus. Simon Stricker spielt das großartig und singt trotz Baritonstimme ohne falsches Abdunkeln überraschend rollendeckend, auch weil er die muskulösen Ausbrüche aus der Gesangslinie entwickelt. Seine Königin ist Kristin Ebner, gewandet in ein Kleid wie rotes Geschenkpapier, mit viel Vibrato und noch mehr Ausdruckskraft gesegnet, ein widerborstiger, eigenständiger Charakter. Ihrer späten Riesenarie hört man gern zu. Der Titelheld schließlich kommt als Clown daher, weiß geschminkt von Anfang bis Ende, ein weltferner, romantischer, von Raymond Sepe mit etwas breit geführter Stimme glaubwürdig gestalteter Träumer. Wer kann ihn ernst nehmen? Wenn er mal etwas tun will, sackt es umgehend in sich zusammen. In diese Freak-Show gerät Posa, ein Westernheld von außerhalb, verbindet sich Carlos (sichtbar durch Schnüre!) in Freundschaft, mutiert zur Hofschranze, dann zum Opfer mit sichtbaren Blutpaketen auf dem nackten Oberkörper. Und Vladislav Pavliuk hat Charme – und die richtige Stimme, einen hellen, ein wenig trockenen, hinreißend legatofähigen Bariton, dem nur noch ein wenig Kraft zuwachsen müsste.
Jede dieser Figuren interessiert uns. Aber zusammen passen tun sie nicht. Da führt uns Bernd Schmitt, im Hauptberuf Dozent an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart, fast ins absurde Theater. Für ihn ist der Großinquisitor das Zentrum der Oper – allerdings eher der von Schiller als der von Verdi. Um ein zeitnahes Bild von ihm zu zeichnen, hat er die Figur, die er „systemisch“ nennt, aufgespalten in sechs Sänger und sechs, von Flüchtlingen aus Syrien mit großem Charme verkörperten, Bewegungsartisten mit Stepptanzbefähigung. Sie tragen Einheitspullover, die einen freundlichen Wintertag darstellen, sollen freundliche Oberfläche suggerieren und heimliches Herrscherinstrument, Datensammler sein. Das wird auch, ausgerechnet vermittels Papierschnipseln und alter Reiseschreibmaschine, vorgeführt. Aber das behauptete System bleibt einen theatralischen Beleg für seine Menschenfeindlichkeit schuldig. Die singenden Großinquisitoren machen die Duo-Szene ihres Rollenspenders gemeinsam mit Simon Stricker zu einem szenischen und musikalischen Höhepunkt und singen auch den Mönch und die Hofdamen der Königin auf tollem, musikalischem Niveau.
Bernd Schmitts Inszenierung wirft dennoch mehr Fragen auf, als hier gestellt werden können. Warum wählt er zum Beispiel die französische Fassung, wenn er alles, was für diese wirklich charakteristisch ist – den ganzen ersten Akt, weite Teile des Autodafés und das Ballett – einfach über Bord wirft? Warum erstreckt er seinen begrüßenswert freien Umgang mit dem vorgegebenen Material so gut wie nicht auf die Schlussakte? Ebolis berühmtes „O don fatale“ etwa erscheint hier dramaturgisch absolut überflüssig. Und warum beginnt das Spektakel ausgerechnet mit Ebolis Schleierlied, dem sozusagen dekorativsten Auswuchs der Partitur? Zumal Cornelia Lanz mit schwarz bemalter unterer Gesichtspartie, als eine Art Anti-Clown zu Carlos, zwar eine furiose und glaubwürdige Rolleninterpretation abliefert, ihrer obersten halben Oktave aber nichts als Kampfgeist entgegen zu setzen hat. Und vor allem: Warum kommen die tanzenden Großinquisitoren dreimal auf die Bühne, um dort einzuschlafen? Das sieht sehr nett aus, aber schlafen Systeme, schläft etwa Google oder die NSA jemals?
Dieser „Don Carlos – Corridors of Power“ will sich nicht wirklich zum Theaterabend runden, setzt sich mit vielen funkelnden Momenten vielmehr über das Gesetz der Stringenz hinweg und wird vielleicht deshalb in Erinnerung bleiben. Das schönste Beispiel zum Schluss: Vor der Pause sagt Carlos per Brief das berühmte Autodafé ab, was eigentlich nicht geht, weil man uns vorher stundenlang vorgeführt hat, dass ihn keiner ernst nimmt, aber es entsteht ein Wunder: Das Landesjugendorchester wallt auf die Bühne und singt beseelt und so leise wie möglich gemeinsam Abbas „Thank you for the music“. Positive Energie drängt in den Raum. Wie schön ist es, gemeinsam Musik und Theater zu machen! Die Großinquisitoren holen Publikum auf die Bühne und lassen es teilhaben. Und dann gleitet alles ganz allmählich wie auf Schienen zu Verdi zurück und in die Halbzeitpause.