Foto: Szene mit Heiner Stadelmann (Lear). Die Hooligans des „König Lear“ © Jochen Klenk
Text:Manfred Jahnke, am 10. März 2017
Die Bühne ist bis auf einem Stuhl und einem Ständer mit zwei Schwertern leer. Auf der Drehscheibe inmitten der Bühne ist auf dem Boden eine sandartige Struktur zu erkennen. Der Form der Drehbühne angepasst dreht sich vom Schnürboden herab ein schmaler Vorhang aus Ketten. Nach hinten wird die Bühne von einem eisernen Vorhang abgeschlossen, vorne zum Publikum hin gibt es einen Graben, an den Seiten stehen unten LED-Scheinwerfer. So praktikabel das Bühnenbild von Marianne Hollenstein auch erscheint, so wird es doch zum Problem der Inszenierung von Andreas von Studnitz: Als Zuschauer bin ich ständig mit der Frage beschäftigt, warum dreht sich in dieser Situation der Vorhang mit den Ketten, warum die Drehbühne, warum manches Mal auch beide? Welche Bedeutung transportieren diese Bewegungen des Bühnenbildes? Verschärft werden diese Fragen nach der Bewegungsdramaturgie des Bühnenbildes noch durch eine Beleuchtungsdramaturgie, die mit den ständigen LED-Farbwechseln (Licht: Markus Denk) – vorherrschend Blau, aber auch Grün (Heide im Sturm!), Rot – nahe am Kitsch schrammendes Kunstgewerbe produziert. Und wie im Tanztheater die unten stehenden Seitenscheinwerfer das Skulpturhafte von Körpern in Bewegung betonen, so entstehen hier statuarische Bilder, die in sich wenig Dynamik zeigen, sondern auf opernhafte Arrangements verweisen. Und manchmal auch filmischen Charakter haben, wenn da Auftritte zu sehen sind, die erst einmal eingefroren sind, weil im Vordergrund noch eine andere Szene spielt. Nur ist das alles nicht konsequent strukturiert.
Das ist schade, denn dieses kunstgewerbliche Brimborium lenkt davon ab, dass das Schauspielensemble in dieser Inszenierung von Shakespeares „König Lear“ am Theater Ulm zu einer beachtlichen Form aufläuft – nur dass die Technik das Interesse auf sich zieht. Wenn denn der Lear von Heiner Stadelmann als Gast schon in der Szene, in der er sein Königreich an seine Töchter verteilt, Wahnsinn aufblitzen lässt und damit die Inszenierung an Fallhöhe verliert, gelingt es ihm doch für seine Figur eine schillernde Balance zwischen Wirklichkeit und Wahn zu halten, eigentlich ein freundlicher alter Mann, den die beiden Töchter Goneril und Regan, von Tini Prüfert und Aglaja Stadelmann dämonisch-biestig ausgespielt, übel mitspielen. Die schönsten Momente hat Stadelmann am Schluss, wenn er mit der toten jüngsten Tochter im Arm einfach da steht. Da passt es dann auch, was vorher störend wirkt, nämlich dass nicht nur Stadelmann ständig Kontakt zum Publikum aufnehmen muss. Was dieser hagere Schauspieler denn auch bravorös meistert, wirkt bei dem Narr von Christel Mayr mit dem Dauergrinsen nicht mehr sinnfällig, wobei diese Schauspielerin in vielen Rollen schon gezeigt hat, welche wunderbare Energie in ihr steckt.
Auch in dieser „Lear“-Inszenierung zeigen sich die Eigenarten von Andreas von Studnitz. Nicht nur, dass es bei seinen „Klassiker“-Inszenerungen ohne eigene Übersetzungen, bzw. Bearbeitungen nicht geht, sondern auch, dass er glaubt, nur „in“ zu sein, wenn er mit Anglizismen um sich schmeißt (warum denn Shakespeare nicht gleich in Englisch?) und zu lauter Modernismen greift, die auf Lacher, aber nicht wirklich auf Inhalte zielen, wenn er z.B. das Gefolge von Lear als „Hooligans“ kennzeichnet. Oder seine Marotte Dialekte einzusetzen. Warum der Herzog von Burgund von Günther Nickles Schwyzerdütsch reden muss? Wo er doch so wunderbare Schauspieler wie Julia Baukus hat, die als Cordelia eine überzeugende reduzierte Form gefunden hat. Oder Wilhelm Schlotterer als Graf von Gloster. Neben ihren Frauen bleiben Fabian Gröver als Herzog von Cornwall und Maximilian Wigger-Suttner als Herzog von Albany zwangsläufig blass. Wobei im Zentrum ihrer Frauen eine Figur steht, die dieses Zentrum noch nicht ausfüllen konnte: Jakob Egger als Edmund, dem Bastard, der seinen Vater, den Grafen von Gloster, und seinen Bruder Edgar verrät, um ins Bett der Schwestern aufzusteigen. Auch Christian Streit hat als Edgar noch nicht ganz in seine Rolle hineingefunden. Bleibt von den zentralen Rollen noch der Graf von Kent des Timo Ben Schöfer zu nennen, immer gegenwärtig, aber unauffällig, wie es seine Rolle erfordert.
Wenn es auch viele schöne Momente in dieser Inszenierung gibt, bleibt doch ein unbefriedigtes Gefühl zurück. Es fehlt eine Haltung der Regie zur Geschichte: Was will mir diese Inszenierung wirklich erzählen? Und da drängt sich denn sogleich der Eindruck des Kunstgewerblichen auf. Nicht nur über die beschriebenen Bühnenelemente, sondern auch über die Kostüme (ebenfalls: Marianne Hollenstein), die zum Sinnbild der Unentschiedenheit dieser Inszenierung werden: Da läuft Lear in einem weißen heutigen Anzug herum, während andere in historisierenden Kostümen gesteckt sind.