Regisseur Bruno Klimek hat das schlicht und wirkungsvoll arrangiert. Es könnte sich so nun auch eine ganz übliche „Traviata“ abspielen, quasi ganz in der Erinnerung. Der Corona geschuldete Abstand der Sänger auf der Bühne ist hier durch die Tuberkulose ebenso begründet wie er Symbol ist für Erscheinungen aus der Unwirklichkeit, die Violetta heimsuchen.
Aber Corona fordert (in Hessen) auch noch verkürzte Spieldauer und reduziertes Orchester, und so hat das Kasseler Staatstheater eine musikalische Überschreibung in Auftrag gegeben, die die Szenenauswahl rechtfertigt und einbettet in moderne Zuspitzungen: „L’ultimo sogno“ – der letzte Traum. Dank Carlo Ciceri kommt man so mit 28 Musikern und eineinhalb pausenlosen Stunden aus, der Chor ist im für Zuschauer gesperrten Rang verteilt. Das ist ein sehr schöner Effekt, weil er das Werk raumklanglich öffnet. Besonders am Anfang, wenn der Chor einige Vokalisen in die sphärischen hohen Klänge wirft, die nicht wie die sonstige Ouvertüre mit einer jenseitig melancholischen Melodie einschweben, sondern verunsichernd zwischen Wahrnehmung und Unwahrnehmbarkeit changieren.
Selbst wenn sich Violettas große „è strano“-Arie und das Duett mit Alfredo dann in Verdis Melodie Raum nehmen, scheinen in der Ausdünnung des Orchesters manchmal etwa die Pauken mehr hervorzutreten und so das Geschehen düstrer zu grundieren. Mal wird die Flöte penetrant, dann schwirren die Geigen, darf das Becken leise rauschen. Ciceris schillernde Übergänge werden so in die bekannten Melodien fortgesetzt.
Zu Violettas Husten gegen Ende rührt sich Donnerblech. Ganz auf Distanz an entgegengesetzten Wänden singen sie und Alfredo noch einmal von künftigem Glück, da hat die Geste des Arztes schon deutlich gemacht, dass keine Hoffnung besteht. Violetta verhustet sich, als wollte sie nie mehr singen, während die in die Höhe getriebenen, immer leiser werdenden Instrumente quasi die Seele veratmen. Grausam rührend.
Generalmusikdirektor Francesco Angelico am Pult hat ein Händchen für diese Zartheit, meidet wie Ciceri das Schroffe. Seine Überschreibung ist sehr atmosphärisch, ganz auf Traviatas Seele gerichtet, da ist kein Platz fürs Brindisi. Auch Regisseur Klimek erzählt aus ihrer Sicht, die Gesellschaft entlarvt sich dabei selbst: Wenn in der Ballszene alles um Violettas Beleidigung kreist, umrunden die Solisten die Gedemütigte in einem Zirkel: Sie ist strahlender Mittelpunkt, aber auch umzingelt.
Mit Vlada Borovka hat Kassel einen hervorragenden Gast als Violetta. Sie singt mit ausgeglichen rundem Sopran sowohl die Koloraturen als auch ihre lyrischen Erinnerungen. Und sie füllt auch darstellerisch den Fokus, in dem sie in dieser konzentrierten Fassung steht. Schön vereint sich ihre Stimme im Duett mit dem geschmeidigen Tenor von Giordano Lucà als Gast-Alfredo, der höhensicher mit vielen Ausdrucksfarben singt, dabei zuweilen ein gewisses emotionales Schillern hören lässt.
Aber auch mit dem kraftvoll-weichen Bariton von Hansung Yoo aus dem Hausensemble als Giorgio ergänzt sie sich gut. Dem ist zwar die Heimatarie gestrichen, aber wenn er (wie bei Götz Friedrich) mit dem Töchterchen auf der Bühne erscheint, besingt er mit Wärme und Inbrunst dies Mädchen, so schön und rein, das durch Violettas Beziehung zu Alfredo kompromittiert ist. Erst später entdeckt er die Güte der Traviata.
Verdis Oper in Ciceris Fokussierung ist in Kassel eine runde Sache. Trotzdem wird man nach Corona dafür keinen Bedarf mehr haben, denn dafür ist die Ur-„Traviata“ schon zu dicht und zu gut. Als Alternative zu irgendwelchen Opernquerschnitten ist das Kasseler Projekt aber lobenswert und in jedem Fall lohnend.