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Die Hölle ist eine Geschmacksverirrung

Sergej Prokofjew: Der feurige Engel

Theater:Bayerische Staatsoper, Premiere:29.11.2015Autor(in) der Vorlage:Waleri Jakowlewitsch BrjussowRegie:Barrie KoskyMusikalische Leitung:Vladimir Jurowski

Was für ein Alptraum an Geschmacksverirrung ist allein schon diese realistische Hotelzimmer-Suite: Neobarocker Stuck an den Wänden samt Kassettendecke; das Ganze gemixt mit 1960er Look, etwa beim quadratischen Deckenlüster und den diversen Steh-, Tisch-, und Wandlampen. Ein kitschiges Doppel-Bett mit Baldachin dominiert den mit Flügel, Kanapee, Sesseln, Stühlen, Bänkchen und Blumensträußen vollgestellten Raum von Rebecca Ringst, inspiriert von der erotischen Fotoserie Louis XV von Juergen Teller, die im Programmbuch abgebildet ist.

Aus dieser akkuraten Vorhölle, in die immer wieder das reale Hotelpersonal einbricht, etwa in Gestalt von Heike Grötzinger als Hauschefin oder Christian Rieger als Butler, kommen Renata und Rupprecht in der Münchner Erstaufführung (!) von Prokofjews „Der feurige Engel“ im Nationaltheater zwei pausenlose Stunden nicht heraus: als wäre es die „nur“ vorgestellte Welt zweier paranoid-schizophrener Menschen. Wie sich der kindliche Wahn Renatas, ein Engel („Madiel“) sei ihr erschienen, bei der jungen Frau manifestiert, wie er zuerst zur erotischen Wunschvorstellung, dann zum unverrückbaren Glauben wird, Madiel wäre ihr in Menschengestalt als Graf Heinrich begegnet (der sie nach einem Jahr verlässt), und wie sich diese fixe Idee schließlich immer weiter fortzeugt, immer verrücktere Blüten treibt, das spiegelt sich auch in der Bühne. Deren Decke kann in verschiedenen Stufen bis fast ans obere Portal hochfahren, die hintere Wand lässt sich bis an die Rampe nach vorne schieben. Diese auch schon mal mit rotem Samt verhüllte Bühne leuchtet teils giftig lindgrün oder flammend rot, ist fahl oder knallig bunt. Licht von unten gibt den Figuren oft eine gespenstische Aura.

So wechselt auch die Musik in ihren schillernden Farben und Aggregatzuständen, ihren klanglichen und rhythmischen Konvulsionen, wird im Verlauf des Abends immer schriller und schräger. Vladimir Jurowski ist am Pult des Staatsorchesters manchmal vielleicht allzu zurückhaltend und verbindlich, könnte die Ecken und Kanten ruhig häufiger scharf ausstellen.

Die von Engeln und Dämonen, dem Teufel und am Ende der Inquisition heimgesuchte Renata – die Oper spielt ursprünglich 1534 in Köln und Umgebung – ist eine Parade-Partie von Svetlana Sozdateleva. Sie hat sie zuletzt 2014 an der Komischen Oper in Berlin und im Juni 2015 in Düsseldorf gesungen hat und ist jetzt zu Beginn der Proben für die erkrankte Evelyn Herlitzius eingesprungen. Diese eigentlich zierliche Frau dominiert den Abend mit einer nie nachlassenden Intensität in Stimme und Spiel, so dass der Rupprecht Evgeny Nikitins trotz aller physischen und baritonalen Präsenz keine Chance bei ihr haben kann, schon gar nicht, als er vom Beschützer über den heftig erotisch Stimulierten zum Liebenden wird und dabei sogar sein Leben riskiert.

Wenn die „wirkliche“ Hölle in das Hotelzimmer einbricht, dann erleben wir ein von Otto Pichler faszinierend fantasievoll und anspielungsreich choregraphiertes, hervorragend getanztes Ballett von halbnackten, fast gänzlich tätowierten jungen Männern, die schon zuvor in edlen pastellfarbenen Roben als Frauen in das Hotelzimmer gerauscht sind. Später gibt es den prall-karnevalesken Auftritt von Kevin Conners als Mephistopheles, nebst einem Faust (Igor Tsarkov) in Strapsen und Fell über nacktem Oberkörper inmitten einer nicht minder wie zum Kostümball aufgetakelten Entourage in Reizwäsche und Masken, mit blanken Hintern und vorgebundenem Gemächt. Der renommierte Heldentenor Vladimir Galouzine (Agrippa von Nettesheim) hat ebenfalls einen illustren Auftritt als nahezu glatzköpfige Fummeltrine (Kostüme: Klaus Bruns).     

Am Ende halluziniert Renata im nun vollständig ausgebrannten, verkohlten Hotelzimmer in den Nonnen eines Klosters und dem Inquisitor (Goran Juric) dutzendfach geklonte Jesus-Figuren mit Dornenkrone im blutbesudelten weißen Gewand (an den Rand des Nervenzusammenbruchs gesungen von den Frauen des Staatsopernchors), bevor der ganze Spuk verschwindet und Renata und Ruprecht als Paar –Adam und Eva vor dem Sündenfall ähnlich – frontal zum Publikum in der nun komplett leergeräumten, wieder unversehrten Hotelsuite an der Rampe stehen; als wär’s ein Zimmer in der Psychiatrie, in der wir uns wohl den ganzen Abend befunden haben.